Amnion 4: Chaos und Ordnung
bewährte sich Morns Null-G-Training, die Desorientierung schwand.
»Wo sind wir?« fragte sie leise, während sie die Nachbilder von Träumen aus ihren Gedanken verscheuchte.
Davies schnitt bei der Antwort eine ähnlich finstere Miene wie sein Vater. »Angus sagt, nach Massif 5 ist bloß noch eine Hyperspatium-Durchquerung erforderlich. Sobald wir dort sind, müssen wir sofort fast permanent auf Hoch-G-Belastung gefaßt sein, deshalb will er uns nun ’ne Gelegenheit geben, uns die Füße zu vertreten. Das nächste Mal wechseln wir in siebzig Minuten in die Tach über, hat er angekündigt.« Mißmut verzog Davies’ Mund. »Außer er überlegt’s sich auch diesmal anders.«
Bei der Erinnerung an Angus’ Zänkigkeit seufzte Morn. Sein Benehmen ängstigte sie stärker, als sie eingestehen mochte. »Er wird’s nicht, wenn wir ihm keinen Vorwand liefern. Wir können uns von der Brücke fernhalten. Vielleicht behält er dann die Ruhe.«
Davies schnaubte. Anscheinend befriedigte ihn der Vorschlag nicht, Ärger einfach aus dem Weg zu gehen. Seitlich am Kinn strafften und entspannten sich ihm die Muskeln, als kaute er seine Erbitterung durch. Die Faust packte das Zonenimplantat-Kontrollgerät energischer. »Was ist nur in ihn gefahren?« schalt er unvermittelt. »Was hat sich geändert? Vor dem Verlassen des Bannkosmos ist er nicht so gewesen. Ich dachte schon, er stünde wirklich auf unserer Seite. Jetzt führt er sich auf, als fräße er irgendeinen Groll in sich hinein.«
Angesichts der Nöte Davies’ neigte Morn den Kopf. Wie sollte sie ihm helfen? Über irgendwelche Folgeerscheinungen der Schnellwachstumsmethode und des Bewußtseinstransfers hatte sie keinerlei Kenntnisse; genausowenig über embryonale Entwicklung und Geburt unter dem Einfluß eines Z-Implantats. Und sie war ohne psychische Krücke selbst kaum zu irgend etwas imstande. Angus gab ein Thema ab, mit dem sie sich am liebsten gar nicht beschäftigt hätte. Im Grunde genommen übte er noch immer die Gewalt über sie aus, auch wenn er nicht mehr über das Kontrollgerät verfügte. Alles was sie tat und redete, alles was sie war, trug den Stempel, den Makel seiner Brutalität.
Seiner und Nicks Brutalitäten.
Und doch war Davies ihr Sohn.
An die Koje geklammert, zuckte sie die Achseln. »Du weißt über ihn nur soviel wie ich.«
»Ich weiß sogar mehr«, entgegnete Davies harsch. »Ich war schon einige Zeit mit ihm zusammen, bevor er dich aus den Pfoten der Amnion befreit hat. Mir ist klar, daß ich ihm gleichgültig bin. Einen Sohn zu haben bedeutet ihm ’n Scheiß.« Morn schüttelte den Kopf, aber Davies ließ sich nicht beirren. »Er hat mich bloß aus der Zelle des Kassierers geholt, weil Nick ihm eingeredet hatte, er könnte mich gegen dich einhandeln. Du bist es, die ihm wichtig ist.« Davies’ Augen glosten, als sähe er ebenfalls einen Grund zum Mißmut gegen Morn; als mäße er ihr daran die Schuld zu, daß seinem Vater nichts an ihm lag. »Dich will er haben… Und es geht noch weiter. Er will dich günstig stimmen. Deshalb bin ich davon ausgegangen, daß er auf unserer Seite steht. Er ist vollauf zu tun bereit, was du von ihm verlangst. Oder wenigstens war er’s. Was er jetzt vorhat, da blicke ich nicht durch.«
Sein Kummer griff Morn ans Herz. Ach, Davies, mein armer Junge. Du bist an allem völlig unschuldig. Du hast nichts Derartiges verdient.
Dennoch behielt sie diese Art trostspendender Floskeln für sich. Für so etwas war er zu alt. Körperlich lebte er als Sechzehnjähriger; und sein Geist, sein Verstand, war gleichzeitig jünger und älter als Morns Bewußtsein, gealtert ebenso durch ihren wie den eigenen Leidensweg, jedoch mangelte es ihm an der Reife langer Erfahrungen.
»Und das stört dich«, erwiderte Morn bedächtig.
Zeitweilig vergaß Davies, an der Koje Halt zu bewahren. Die Aufwallung von Vehemenz, die ihn jetzt durchfuhr, hatte die Wirkung, daß er zur Kabinendecke emporschwebte. Heftig stieß er sich oben ab und sauste zurück zur Koje herunter, hielt sich wieder fest.
»Morn, ich bin völlig allein. Ich meine hier.« Er schlug sich mit dem Handballen auf die Stirn. »Alle Erinnerungen, die ich habe, bestehen darauf, ich sei du. Ich weiß, daß es nicht stimmt, aber mein Gedächtnis bleibt dabei. Ich brauche… Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.«
Aber dann platzte es wild aus ihm hervor. »Ich brauche einen Vater! Irgend jemanden, der mir Rückhalt bietet. Eine Bezugsperson, die mir dabei
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