Amnion 4: Chaos und Ordnung
den Blick von Morn ab. Kurz besah er sich das Zonenimplantat-Kontrollgerät, als hätte er es zu hassen gelernt. Hätte Morn es nicht benutzt, um den Konflikt mit Nick durchzustehen, wäre er nie zur Welt gekommen. Und hätte Angus ihr kein Z-Implantat in den Kopf gepflanzt, wäre sie niemals schwanger geworden.
Davies’ Lächeln war voller Trostlosigkeit. Er öffnete die Faust; ein leichtes Schnippen beförderte das Kontrollgerät in Morns Richtung.
Sie fing es mit der freien Hand auf und schob es in eine Tasche der Bordmontur, ohne den Blick von Davies zu wenden.
»Du hast recht«, sagte er zerstreut. »Wir sollten was futtern.«
Er vermied es, sie anzuschauen, während er die Koje verließ, zur Tür schwebte und am Kombinationsschloß Tasten tippte. Dann jedoch verharrte er; an einen Haltegriff der Tür geklammert, erwiderte er Morns traurigen Blick. »Ich mache dir keine Vorwürfe«, erklärte er ruhig. »Dafür erinnere ich mich an zu vieles. Was dir zugestoßen ist. Wie du dich gefühlt hast. Warum du so und so und nicht anders vorgegangen bist.« Er versuchte zu lachen, aber scheiterte kläglich. »Ich hätte das gleiche getan.«
Er stieß sich vom Haltegriff ab und segelte hinaus in den Korridor, der durch die Mittelsektion der Posaune verlief.
Während sie ihm folgte, mußte Morn einen neuen Drang unterdrücken, in Tränen auszubrechen. Davies’ Verständnis erregte den Eindruck, als verziehe er ihr Verbrechen, die in Wahrheit unverzeihlich bleiben müßten.
Ähnlich wie es sich an Bord der Käptens Liebchen verhalten hatte, bestand auch auf der Posaune die Kombüse aus kaum mehr als einer Nische in der Wand des Hauptkorridors. Allerdings waren die Nahrungs- und Getränkeautomaten sowie übrigen Einrichtungsbestandteile für den Gebrauch unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit konstruiert worden. Die Ausgabegeräte pumpten Kaffee, Suppe und andere Flüssigkeiten in Antigrav-Behältnisse; das Lebensmittelangebot umfaßte hauptsächlich Preßnahrungsriegel und kompakte Sandwiches, die nicht in Bröckchen und Krümel zerfielen. Auf Deck angeschraubte Stühle umstanden den einzigen, schmalen Tisch; an den Sitzen sowie den Wänden konnten Gurte eingehakt werden.
Vor mehreren Stunden, während einer der längeren Pausen, die Angus zwischen den Hyperspatium-Durchquerungen machte, hatte Davies in einem Wandschrank voller Ausrüstungsgegenstände eine Anzahl mit Karabinerhaken ausgestatteter Nullschwerkraftgurte entdeckt und für sich und Morn zwei an sich genommen. Darum konnten sie sich, sobald ihre Mahlzeiten fertig waren, an den Stühlen festhaken und essen, ohne daß sie bei jeder Armbewegung vom Tisch abtrieben.
Schweigsam aßen sie, bis plötzlich am Kombüseneingang Sib Mackern erschien und fragte, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Morn deutete auf einen Sitz. »Klar«, nuschelte Davies mit vollem Mund.
Sib betätigte sich – aus Verlegenheit ziemlich ungeschickt – in der Kombüse, bis seine Mahlzeit zubereitet war; dann schob er sich Morn und Davies gegenüber auf einen Stuhl. So wie die beiden hatte er sich einen Nullschwerkraftgurt besorgt oder aushändigen lassen. Sobald er sich angehakt hatte, betrachtete er seine Nahrungsriegel und die Antigrav-Flasche, als könne er sich nicht entsinnen, wieso er geglaubt hatte, hungrig zu sein.
Den Kopf gesenkt, beobachtete Morn ihn unauffällig unter den Fransen ihres Haars hervor. An Bord der Käptens Liebchen hatte er sie aus ihrer Zelle entweichen lassen, damit sie den Versuch wagen konnte, Davies vor den Amnion zu retten. Wie auf ihre verschiedenerlei Weise auch Mikka und Vector hatte er es zu ihren Gunsten riskiert, Nick zu hintergehen; das Risiko hingenommen, daß Nick ihn totschlug. Dabei sah der frühere Datensysteme-Hauptoperator keineswegs wie ein Mensch aus, der sich solchen Gefahren aussetzte. Ständig schien ihm eine Aura eines diffusen Hangs zur Verzweiflung anzuhaften. Seine bläßlichen Gesichtszüge hatten immerzu einen Ausdruck, als wollte er sich dafür entschuldigen, daß er überhaupt lebte; man hätte meinen können, sein dünner Schnurrbart sei nur ein Schmutzstreifen auf der Oberlippe. Seine Entschlossenheit, auf Nick aufzupassen, hatte ihn sichtlich geschlaucht und nervlich zermürbt.
Noch heute fragte sich Morn, warum er ihr geholfen hatte. In gewisser Beziehung empfand sie alle gegen Nick gerichtete Opposition als sinnvoll und natürlich. Sib jedoch war schon seit längerem auf der Käptens Liebchen tätig, vermutlich
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