Amnion 4: Chaos und Ordnung
Entschlossenheit tippte er der Konsole Befehle ein.
»Übersprung in die Tach erfolgt in dreißig Sekunden«, gab er per Interkom bekannt, während er den Steueranlagen Koordinaten und dem Ponton-Antrieb Energie zuleitete, das Scanning fokussierte und die Materiekanone auflud.
So lange brauchten Vector, Sib und Ciro, um sich in die relative Sicherheit ihrer Kabinen zurückzuziehen.
Am liebsten hätte er die Frist gespart, die nächste Hyperspatium-Durchquerung sofort durchgeführt, während er noch günstigere Voraussetzungen hatte. Wenn er zuließ, daß ein VMKP-Raumschiff ihn einholte, war er erledigt. Dann konnte irgendein Astro-Schnäpper seine Prioritätscodes invozieren, und schon hätte seine kurze, so ambivalente Freiheit ein Ende.
Doch sein Data-Nukleus gestattete ihm nicht zu pfuschen. Er gewährte den Leuten, die auf ihn bauten, ihre vollen dreißig Sekunden Zeit, ehe er die Posaune abermals ins Hyperspatium schleuderte.
MORN
Morn erwachte mit dem vage beunruhigenden Gefühl, jemand hätte einen Schalter umgelegt, aus abgründigen Träumen. Im einen Moment ruhte sie noch in derartig bekömmlichtröstlichem Schlummer, daß er sie von der Oberfläche ihrer Haut bis ins vom Gram zermürbte Herz mit Stille erfüllte. Im darauffolgenden Moment war sie hellwach, hatte die Augen offen, spürte ihre schlaffen Glieder; fühlte ihr nach wie vor vorhandenes, weil durch Schlaf oder Träume unauslöschliches Leid.
Sie kannte das Phänomen. Es entstand durch den Streß des Übergangs vom künstlich hervorgerufenen Schlaf und Frieden ins gewöhnliche, mit Mängeln behaftete Menschsein. Aber daß sie es schon kannte, beschwichtigte sie wenig. Sie war von den Emissionen ihres Zonenimplantats dermaßen abhängig geworden, daß sie sogar die hilflose Verfassung der Bewußtlosigkeit als der Begrenztheit und dem Weh des Wachzustands vorziehbar empfand.
Auf der anderen Seite der engen Kabine kauerte Davies auf der Kante seiner Koje, hatte sich gegen die Schwerelosigkeit mit dem Knie daran untergehakt. Er betrachtete Morn düsteren, gehetzten Blicks, der auf gewisse Weise ebensoviel geballte Unrast widerspiegelte wie Angus’ memmenhafte Bosheit, die Morn ihm angesehen hatte, während er sie vergewaltigte und demütigte.
In der Hand hielt er das Zonenimplantat-Kontrollgerät.
Wie Angus.
Und wie Nick. Einige Zeit lang hatte auch Nick sie dank der Elektrode in ihrem Schädel seiner Gewalt unterwerfen können. Und genau wie sie beide war Davies ein Mann…
Darum flößte seine Gegenwart ihr im ersten Augenblick Grauen und Abscheu ein. Wieder hatte ein Mann sie in seiner Macht, der keine andere Absicht haben konnte, als sie zu mißhandeln und zu mißbrauchen.
Aber ob Mann oder kein Mann, er war ein anderer Mensch als die beiden. An diese Einsicht klammerte sich Morn, während er sie musterte. Sein Hand hing locker in der Luft; kein Finger drückte Tasten. Er war ihr Sohn: sein Geist war ein Gegenstück ihrer Psyche. Die Ruhelosigkeit in seinen Augen beruhte nicht auf Gemeinheit. Sie war ein Ausdruck seiner Sorge; seines gegen Nick gerichteten Argwohns; des Zweifels an Angus; und der unumgänglichen, unberechenbaren Nachwirkungen der Tatsache, daß er in Morns Leib herangewachsen war, während nahezu andauernd Stürme artifiziell induzierter Kräfte sie durchtost hatten. Dadurch war er auf Stoffwechselextreme konditioniert worden, die kein normaler Ungeborener überstanden hätte.
Morn fragte sich, wie er sich eigentlich Erholung verschaffte. Er sah aus, als hätte er seit der Flucht aus Kassafort nicht mehr geschlafen.
Vielleicht vermochte er gar nicht zu schlafen.
Aber wie lange könnte er ohne Schlaf bei Verstand bleiben?
»Geht’s dir gut?« wollte er erfahren, nachdem er einige Zeit lang ihr Aufwachen mitangeschaut hatte. Die Frage drang ihm als rauhes Krächzen aus der Kehle, als hätte er Stunden mit verkrampften Stimmbändern zugebracht, nur auf ihr Erwachen gewartet.
Morn nickte. Die Rückkehr in den Wachzustand hatte sie entkräftet. Sie fummelte an den Verschlüssen der Gurte, die sie auf der Koje niederhielten, öffnete sie, befreite sich aus dem Anti-G-Kokon. Die Finger daran festgekrallt, um nicht abzutreiben, schwang sie die Beine über den Kojenrand, setzte sich auf die Kante.
Ihre Benommenheit und die Schwerelosigkeit verursachten ihr einen Schwindelanfall. Sie hatte den Eindruck, daß die Posaune trudelte, Heck über Bug durchs All taumelte wie ein Wrack. Doch im nächsten Moment
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