Amnion 4: Chaos und Ordnung
Morn, sobald sie sein Gesicht sah.
Seine Augen glosten, als ob aus ihnen Wahnsinn leuchtete: als flammte in seinem Schädel eine Leuchtkugel des Irrsinns. Ein Grinsen bleckte ihm die Zähne. Blut verfärbte seine Narben dunkel, ließ sie deutlich hervortreten wie das Werk von Krallen. »Ja, du siehst alles total verkehrtrum.« Seine Stimme klang ebenso nach mörderischen Absichten wie innerer Entspanntheit; gerade so, als wäre er Herr seiner selbst und der Umgebung. »Wenn Polypen ihre Arbeit zu tun versuchen, kommt es so.«
Morn kannte ihn längst viel zu gut: sie wußte, was seine Miene verhieß. Ohne zu überlegen, ohne nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was hier schiefgelaufen sein mochte, griff sie nach den Gurtverschlüssen, um sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen; um nach dem Zonenimplantat-Kontrollgerät in ihrer Tasche zu grapschen.
Trotzdem reagierte sie zu langsam. Sie harte einfach zuviel hinter sich; ihre Nerven und Muskeln waren lahmer geworden. Nick vollführte an dem Haltegriff eine Drehung, schwang das Bein im Bogen, um ihr einen Tritt gegen den Kopf zu versetzen, und sie sah, er würde sie nicht verfehlen. Sein Stiefel sauste auf sie zu, als ob sie reglos verharrte; als wartete sie regelrecht darauf.
Davies dagegen war schneller. Er verfügte über die Reflexe seines Vaters; seine Paten hießen Adrenalin und Drangsal. Und auch er wußte über Nick nur zu genau Bescheid: kannte ihn aus Morns Erinnerungen, durch ihre Leiden. Ihn befiel im selben Augenblick Panik wie Morn. Unwillkürlich schleuderte er Nick seine Antigrav-Flasche ins Gesicht. Mit dem anderen Arm blockte er Nicks Fußtritt ab.
Weil er noch an den Stuhl geschnallt war, gelang es ihm, den Stoß abzuwehren.
Aus demselben Grund jedoch rammte die Wucht des Zusammenpralls ihn gegen die Tischkante. Morn glaubte, aus seinen Rippen oder dem Arm ein Knacken zu hören. Trotz der Gewichtslosigkeit Nicks zeichnete sein Tritt sich sowohl durch Masse wie auch Trägheitsmoment aus, und Davies’ Masse konnte nicht ausweichen.
Die Antigrav-Flasche traf Nick an der Wange, glitt ab und flog davon, hinterließ auf seiner erhitzten Haut einen runden, hellen, einer Verunreinigung ähnlichen Fleck. Vorübergehend verlor Nick über sich die Gewalt, Davies’ Abwehrschlag warf ihn zurück, er trudelte an die Gegenüberwand des Korridors.
Kaum daß ihr Gurt sich öffnete, stieß Morn sich ab, benutzte den Tisch, um einen Purzelbaum in Richtung der Ausgabeautomaten zu schlagen, fort von Nick.
Sib war für eine Sekunde zu völliger Reglosigkeit erstarrt. Auf ihn hatte Erschrecken diese Wirkung: Entgeisterung lahmte ihn bis zur Handlungsunfähigkeit. Und in der zweiten Sekunde beging er den Fehler, an den Verschlüssen zu fummeln, um seinen Nullschwerkraftgurt zu öffnen.
Dann ließ er von den Verschlüssen ab und zerrte die Pistole aus der Tasche. Sein Finger schwuppte zur Sensortaste, ehe Nick sich von Davies’ Abwehrhieb erholen konnte.
Und ehe Davies die Gelegenheit erhielt, sich zu ducken…
Aber Nick war nicht allein. Neben ihm schwebte, die Zehen knapp überm Boden, die Miene mörderisch finster, Angus im Korridor. Er schloß die Faust um einen Haltegriff und fing Nick mühelos ab, lenkte ihn zur Seite, als erforderte sein Eingreifen keinerlei Anstrengung.
Gleichzeitig hob er die andere Hand in Sib Mackerns Richtung.
Fast zu schnell, um gesehen werden zu können, schoß zwischen den Fingern ein dünner Strahl kohärenten Lichts hervor. Bevor Sib die Sensortaste betätigen konnte, schmolz Angus’ Laser mitten durch die Pistole ein Loch.
Sib heulte vor Schreck und Schmerz auf – zwar hatte der Laserstrahl ihn nicht verletzt, aber die Hitze ihn versengt und schleuderte die unbrauchbar gewordene Waffe von sich.
Ach du Schande.
Laserfeuer? Aus Angus’ Hand?
Morn verstand nicht, was sie da sah, und legte momentan auch gar keinen Wert auf Durchblick. Ihre Reaktionen konzentrierten sich ausschließlich auf die akute Notlage. Sie klammerte sich an den nächstbesten Getränkespender, beugte auf dem Gehäuse eines Speisenautomaten die Knie und schnellte sich wie ein Geschoß auf Angus zu.
Für einen Sekundenbruchteil, in dem Morns Gehirn, obwohl er zu kurz war, um ihn messen zu können, aufzuglühen schien, blickte sie geradewegs in Angus’ Augen.
Sein ganzes Gesicht war schwarz von Blut, als wären ihm Hunderte von Blutgefäßen auf einmal geplatzt, aufgerissen worden durch Überdruck des Herzens. In seinen Augen stand soviel Irrsinn
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