Amnion 4: Chaos und Ordnung
Alarmsirenen gellen hörte, vollführte sie einen Satz nach den nächsten Haltegriffen, hakte ihren Nullschwerkraftgurt fest. Die Brückencrew warnte die übrige Besatzung so rechtzeitig wie möglich, doch manchmal fiel die Frist verdammt kurz aus. Die Fäuste um je einen Haltegriff geklammert, den Rücken ans Schott gepreßt, wartete Min auf den Hammerschlag plötzlich Schubs, der sie in eine unvorhersehbare Richtung drücken würde und den sie eventuell nicht überlebte.
Ein reguläres Bremsmanöver. Sie erkannte es sofort, sobald sie den Andruck spürte. Der Ruck warf sie so heftig nach vorn, daß sich eine Hand vom Haltegriff löste. Hätte sie sich nicht mit dem Nullschwerkraftgurt abgesichert, wäre sie mit der Nase gegen das Schott geschmettert worden. Doch der Gurt rettete sie, wie ein Gummiseil riß er sie zurück. Zum Glück dachte sie daran, ihre Muskulatur zu lockern, als ihre Hand vom Haltegriff glitt; andernfalls hätte sie sich Rupturen der Rückenmuskeln zuziehen können.
Fünf Sekunden starken Gegenschubs folgten. Weiße Blitze durchflackerten Mins Sicht, verflimmerten zu Finsternis. Der Pulsschlag wummerte ihr in den Ohren. Die Belastung rief in ihrem Körper Zuckungen und Krämpfe hervor. Dann war das Manöver vorbei. Für einige Sekunden baumelte sie am Nullschwerkraftgurt hin und her, während die angestaute Trägheit aus ihrer Masse wich.
Falls ihr so etwas unterwegs nochmals passierte, mochte sie selbst reif fürs Medizinalrevier sein. Schon jetzt spürte sie, daß einige der erlittenen Prellungen ihr üble Schmerzen bereiten würden.
Während sie verschnaufte, wartete sie auf die nächste Durchsage der Brücke, die der Besatzung mitzuteilen hatte, was als nächstes bevorstand.
Die Alarmsirenen erschollen noch einmal, diesmal weniger laut und nicht so lang wie beim erstenmal. Fast unverzüglich spürte man neuen Schub, der die verlorene Geschwindigkeit wiedergewinnen sollte, Aufflammen der Triebwerksdüsen erhellte das Dunkel des Alls. Der Andruck war weniger stark, dafür dauerte die Beschleunigung etwas länger; doch nach ein paar Minuten pfiff ein Entwarnungssignal aus der Bordinterkom-Anlage.
»Sicherheitsvorkehrungen können aufgegeben werden«, informierte eine Frauenstimme die Besatzung. »Es bleiben achtundzwanzig Minuten bis zum nächsten hindernisbedingt notwendigen Ausweichmanöver. Nutzen Sie die Zeit.«
Die Interkom verstummte mit einem Klicken; es ähnelte dem Geräusch, das der Karabinerverschluß erzeugte, als Min ihren Nullschwerkraftgurt aus dem ans Schott geschweißten Schäkel hakte. Sofort stieß sie sich mit dem Fuß von der Wand ab.
Verdammt noch mal, Dolph, beschwerte sie sich im stillen. Was ist denn so verflucht eilig? Warum konntest du nicht warten?
Aber sie wußte, daß Dolph sie aus seiner Kabine angerufen hatte, nicht von der Brücke. Wahrscheinlich hatte er sich ausgeruht. Als er sie um die Zusammenkunft bat, war er sich vermutlich nicht darüber im klaren gewesen, daß die Rächer auf einen Bereich freien Weltalls zuflog.
Grimmig fragte sich Min, was, zum Teufel, so dringend sein mochte, daß er seine und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen mußte.
Erste Hinweise auf die Antwort sah sie, sobald sie aus einem der großen Personenlifts in den Korridor schwebte, der rechterhand zwanzig Meter weit zum Medizinalrevier führte.
Im Korridor baumelte eine ganze Anzahl von G-Hängematten: wenigstens fünfundzwanzig hatte man vor dem Medizinalrevier an beiden Wänden befestigt. Und alle waren belegt. Das Medizinalrevier bot Platz, wenn man Patientenkammern und OP-Tische zusammenzählte, für zehn Leute. Also befanden sich hier im Gang zusätzliche Behandlungsbedürftige.
Hatte sich ein Unfall ereignet? Eine explosive Dekompression? Hatte das Raumschiff einen Materiekanonen-Treffer abbekommen? Unmöglich. Min hätte es gemerkt. Jede Beschädigung, durch die so viele Besatzungsmitglieder verletzt worden wären, hätte eine im gesamten Schiff spürbare Erschütterung und überall hörbaren Krach verursacht. Min mußte sich zu sehr konzentrieren, um vor sich hin zu schimpfen, während sie den Korridor entlanghangelte; endlich drückte sie den Handteller auf den Scanner am Eingang des Medizinalreviers. Nachdem sie sich hineingeschwungen harte, rollte die Tür automatisch hinter ihr zu.
Drinnen wartete Dolph mit einem zweiten Mann auf sie, den seine Uniform und die Insignien als den Medi-Tech der Rächer kennzeichneten. Sie saßen, gesichert mit
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