Amnion 4: Chaos und Ordnung
nach allem, was an Bord der Strahlenden Schönheit geschehen ist. Du nährst nur völlig überflüssigerweise seine Hoffnungen. Wahrscheinlich hat er sich schon ausgedacht, was er mit dir anstellt – mit uns –, sobald er frei ist.« Sein Tonfall wurde immer eindringlicher. »Hör auf mit dem Gerede«, forderte, bat er. »Gib ihm Befehle. Oder laß mich ihm Befehle erteilen. Nick ist das eigentliche Problem. Wir müssen uns auf ihn vorbereiten.«
Morn schüttelte den Kopf.
Während ihr Sohn auf der Käptens Liebchen Gefangener gewesen war, hatte sie das Raumschiff in ihre Gewalt gebracht, die Interspatium-Barkentine und einen Großteil Station Potentials als Geisel genommen, um ihn herauszuhauen. Später hatte sie, vor Grauen in beinahe autistischer Verfassung, stundenlang in ihrer Kabine gehockt und sich die Haare ausgerissen, bis Sib Mackern endlich den Mut fand, sie freizulassen. Mehr als einmal hatte sie Zonenimplantat-Entzugserscheinungen durchstehen müssen. Und dann war sie von Nick den Amnion ausgeliefert worden. Amnion-Mutagene in den Venen, hatte sie in der Zelle auf die ribonukleischen Konvulsionen gewartet, die sie um ihr Menschsein und ebenso den Verstand bringen mußten.
Morns Wut war von völlig anderer Art.
»Davies«, sagte sie deutlich und mit Nachdruck, »halt den Mund. Wir müssen’s uns anhören. Wir müssen wissen, welche Möglichkeiten uns offenstehen.« Von neuem wandte sie sich an Angus. »Modifizieren?« fragte sie.
Er hatte auf ihren Wortwechsel mit Davies nicht reagiert. Seine gesamte Aufmerksamkeit hatte sich in der krassesten Form geballt, bis er nichts anderes noch wahrnahm als die eigene Not, sein Ersuchen, und Morn: für sonst irgend etwas gab es keinen Raum mehr in seinem Denken und Empfinden. »Ich kann den Chip verändern«, behauptete er, sobald sie ihn erneut angesprochen hatte. »Dir braucht mir nur zu helfen, an ihn dranzugelangen.«
»Und wie?«
Sie meinte: Wie bist du dazu imstande? Aber sie meinte gleichzeitig: Wieso weißt du, auf welche Weise so etwas machbar ist? Wie ist möglich, daß du einen Kunstgriff beherrschst, den sonst niemand im Human-Kosmos sich auch nur in mindesten vorstellen kann?
Anscheinend verstand er sie. »Ich hab’s von den Amnion gelernt.« Jedes einzelne Wort kostete ihn eine Mühsal, als müßte er es aus den Abgründen einer gräßlichen Tiefe heraufzerren. Oder als ob er sich sorgte, wie Morn seine Einlassungen aufnahm.
»Vor vielen Jahren ist’s gewesen«, erklärte er, sprach jetzt wieder mit tonloser Stimme – der Stimme einer Maschine. »Damals habe ich ’n Erzfrachter gekapert, Süße Träume. Crew von achtundzwanzig Leuten. Aber ich hab sie nicht gekillt. Ich war nicht hinter der Ladung her.«
Unvermittelt wünschte Morn, er hielte den Mund. Sie spürte, wie ihr innerlich kälter wurde, als kröche die Weltraumleere, durch die der Asteroidenschwarm taumelte, ins Raumschiff. Sie bezweifelte, daß sie es verkraften konnte, noch mehr zu erfahren.
»Statt dessen habe ich die Besatzung nach Kassafort geflogen«, gestand Angus mit monotonem Leiern, »und an die Amnion verkauft. Alle achtundzwanzig Personen. Das war das größte einzelne Angebot, das den Amnion je von einem Illegalen unterbreitet wurde, und sie haben mich dafür bezahlt, indem sie mir zeigten, wie ich den Data-Nukleus der Strahlenden Schönheit manipulieren konnte.«
In Morns Magengrube entstand eine merkwürdige Eisigkeit und breitete sich rundum aus; ihre Glieder begannen zu zittern, ihr Herz flatterte. Nick hatte sie den Amnion überlassen. Auch Davies hatte er zu verschachern versucht. Angus jedoch hatte nicht einen Menschen verkauft, sondern achtundzwanzig…
Nochmals brachte er ein steifes Achselzucken zustande. »Das ist der einzige Grund, weshalb ich vom KombiMontan-Sicherheitsdienst nicht exekutiert worden bin, als er dazu Gelegenheit hatte. Der einzige Grund, warum ich hier bin. In dieser Verfassung.« Seine Tränen bedeuteten keineswegs, daß er weinte. Sie waren der Schweiß seiner inneren Marter. »Im Data-Nukleus der Strahlenden Schönheit ließen sich keine Beweise finden, die sie gegen mich hätten verwenden können.«
Die eisige Kälte erreichte Morns Schultern, durchzitterte ihre Arme. Irgendwie schien die Eisigkeit des absoluten Nullpunkts in ihr Inneres eingedrungen zu sein, der vollkommene und unbehebbare Frost des interstellaren Abgrunds.
Ein Mann, der achtundzwanzig Menschen an die Amnion verkauft hatte, wünschte die Freiheit
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