Amnion 4: Chaos und Ordnung
Sichtschirmen und – als Hintergrund zu allem übrigen – das ununterbrochene Gesäusel der Klimaanlagen-Skrubber. Und hinter allem schien sie, durch die greifbare Realität und emotionale Aufgewühltheit nur ungenügend kaschiert, das unterschwellige, gefahrvolle Knistern des Verrats wahrzunehmen. Erneut wandte sie sich an Angus.
Er harrte still in stummem Leid aus. Sein Interncomputer verwehrte ihm die Mittel zum Artikulieren seiner Bitte. Wenn sie ihm nicht die richtige Frage stellte, konnte er ihr keine Auskunft geben.
»Na schön«, sagte sie, als wäre auch sie in jeder Hinsicht so sicher wie Davies. »Wir widersprechen Nicks Befehlen. Er widerspricht unseren Befehlen. Dann haben wir eine Pattsituation. Du kannst nichts mehr machen. Welche Alternativen bieten sich dazu an?«
Für einen ganz kurzen Moment schaute Angus zu Boden, als könnte er nicht ertragen, was er zu sagen hatte. Aber dann hob er den flehentlichen Blick seiner gelblichen Memmenaugen wieder zu Morns Gesicht.
»Tötet mich.«
»Außer dieser«, schnauzte Morn in plötzlicher Erbitterung.
Ein Zucken, als durchstäche ein Schmerz Angus, verzog seinen Mund. »Helft mir.«
»Dir ›helfen‹ sollen wir?« Morn tat nichts, um ihre Verbitterung zu bezähmen; sie brauchte sie. »Was soll denn das heißen?«
»Helft mir«, wiederholte Angus, als sammelte er die Wörter wie Reste in einer Trümmerlandschaft auf. »Mich loszulösen… vom Data-Nukleus.«
Aus seinen Augen rannen Tränen, die ihm nichts bedeuteten.
Davies lief rot an, vielleicht infolge einer Aufwallung der Panik oder Empörung. Man sah ihm an, daß ihm eine lautstarke, heftige Bemerkung auf der Zunge lag.
Morn kam ihm zuvor. So einfach ist es nicht. Sie drohte durch die gleichen Erinnerungen, die momentan ihren Sohn gegen Angus aufbrachten, abermals in einen Zustand nackten Entsetzens abzugleiten. Um sich dagegen zu behaupten, konzentrierte sie sich auf Angus’ verzweifelte Lage, das hilflose Bitten seiner Miene. Sie dachte an die durchdringende Zerquältheit, mit der er Ich bin NICHT dein verdammter Scheißsohn! gebrüllt hatte. »Irgendwie habe ich geahnt«, antwortete sie in bissigscharfem Ton, »daß es darauf hinausläuft.« Ihre gräßlichsten Ängste hatten sie vorgewarnt. »Dich vom Data-Nukleus zu erlösen. Dich zu befreien… damit du wieder deine eigenen Entschlüsse fassen kannst. Aber wie?«
Elektronische Emissionen beendeten die Spasmen in Angus’ Wange; zwangen ihn zu einer Reglosigkeit, als wäre er eine aus Bein geschnitzte Skulptur.
»Ihr könnt ihn herausschneiden. Ich kann euch sagen, wie es geht. Aber dann« – er sprach ohne Eile, ohne ein einziges Wort besonders zu betonen – »bin ich als Cyborg für euch verloren. Meine gesamten Datenspeicher und alle meine speziellen Fähigkeiten wären dahin. Ich wäre bloß noch…« Die Programmierung erlaubte ihm ein steifes Anheben der Schultern, das aussah, als wollte er sich ducken. »Wird der Chip entfernt, stürzt das komplette System ab. Allerdings sind einige Stasisbefehle fest integriert. Auf sie reagieren meine Zonenimplantate automatisch. Ich würde quasi stillgelegt, ihr könntet euch nicht einmal noch mit mir verständigen. Schließlich müßte ich sterben.«
Er verstummte.
Davies beobachtete Morn mit allen Anzeichen der Betroffenheit.
»Oder?« fragte sie grimmig.
»Oder ihr helft mir«, antwortete Angus in wüstem Ton aus wie zugeschnürter Kehle, »ihn zu modifizieren.«
»Zu modifizieren?« Davies hatte sich ans Geländer des Aufgangs zur Konnexblende geklammert; es hatte den Anschein, als könnte er sein Aufbegehren nicht mehr ohne äußeren Halt zügeln. Er empfand die gleiche Wut wie Morn, die gleiche tiefe, unentbehrliche Entrüstung: auf jede Weise hatte er das gleiche durchlitten wie sie, außer am eigenen Leibe. »Das ist unmöglich.« Was ihn betraf, mußte es einfach unmöglich sein. »KMOS-SAD-Chips lassen sich nicht überschreiben. Man kann sie nicht abändern. Wozu wären sie andernfalls denn gut?«
Aber in Wahrheit war sein Zorn nicht das gleiche wie Morns erbittere Wut. Die geistige Gemeinsamkeit zwischen ihnen endete in der amnionischen Entbindungseinrichtung auf Station Potential. Vom Moment seiner Geburt bis zur Befreiung durch Angus hatte Davies sein Dasein als Gefangener verlebt, getrennt von Morn.
Wogegen sie…
»Weshalb hörst du ihm überhaupt zu?« wandte er sich hitzig an Morn. »Du wirst ihm doch wohl nicht helfen, oder?! Das kannst du doch gar nicht. Nicht
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