Amnion 4: Chaos und Ordnung
konnte.
Er hatte etwas Besseres verdient.
Sib nannte ein paarmal halblaut ihren Namen, aber sie beachtete es nicht. Schließlich bewahrte er Schweigen und ließ sie in Ruhe.
In einer Beziehung verlief das Warten unangenehm lang; in anderer Hinsicht wirkte es überraschend kurz. Mikka schaute nicht aufs Chronometer. Statt dessen klammerte sie sich in ihrem Gram an ihre Knie, bis Vestele sie mit einem Räuspern aus der Dumpfheit schreckte. Sie hob den Blick und sah ihn die Hand halb ans Ohr heben, den Kopf zum Lauschen seitwärts neigen. Einige Sekunden lang war seine Aufmerksamkeit abgelenkt.
Ohne es zu merken, sprang Mikka auf.
Die Kraft, deren es bedurfte, um ihre verkrampften Muskeln zu strecken, beförderte sie empor zur Decke. Sofort ruckten die Augen des Aufpassers in ihre Richtung: er riß die Waffe hoch, als befürchtete er, von Mikka attackiert zu werden. Aber Sib erhaschte ihren Arm, hielt sie fest. Als ihre Füße wieder den Boden berührten, zeigte sie ihre leeren Hände vor, um Vestele von ihrer Friedlichkeit zu überzeugen.
Vestele ließ die Pistole auf sie gerichtet, jedoch lockerte sich sein Griff um die Waffe.
»Was ist los?« erkundigte Sib sich gespannt. »Was haben Sie erfahren?«
Vesteles Auskunft fiel zurückhaltend aus. »Lumpi ist aufgegriffen worden. Aus irgendeinem Grund hat er sich in einem der Transportstollen des Frachtgutdocks aufgehalten. Er hätte sich verlaufen, sagt er… Kapitän Succorso hätte er gesucht, behauptet er, und sich dabei verirrt.« Der Werkschutzmann verzichtete auf jeden Kommentar zur Glaubwürdigkeit von Lumpis Aussagen. »Er ist jetzt in der Rezeption. Wo Dr. Beckmann Sie begrüßt hat.«
»Ist er…?« Mikkas Stimme erstickte in der Kehle, ehe sie die Frage beenden konnte. Soviel Erleichterung und Sorge stauten sich in ihrem Brustkorb, daß sie kaum noch Atem fand.
»Ob er wohlauf ist?« fragte Vestele. »Nach Angaben der Kommunikationszentrale ja. Er macht einen reichlich kopfscheuen Eindruck, also hat er vielleicht genug Schiß, um sich an die Wahrheit zu halten. Aber verletzt oder so was ist er nicht.«
Mikka schnappte nach Luft. »Bringen Sie mich zu ihm.«
Der Werkschutzmitarbeiter schüttelte den Kopf. Ohne zu schwanken, zielte seine Waffe auf Mikka. »Tut mir leid, Kommandant Retledge will, daß Sie hierbleiben. Bis wir Neues von Kapitän Succorso hören.« Obwohl er fest blieb, verhielt er sich weiterhin verträglich. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Ihrem Lumpi stößt schon nichts zu. Wir haben so wenig Interesse an Ärger wie Sie.«
Mikka fühlte sich der Versuchung ausgesetzt, ihn anzuschreien; ihm zu drohen; einen Bluff zu riskieren, um sich an ihm vorbeizupfuschen. Doch eine tiefe Empfindung der Nutzlosigkeit hielt sie davon zurück. Nicks Komplotten war sie noch nie gewachsen gewesen: immer war er ihr voraus. Seit sie seinem Bann verfallen war und auf seinem Raumschiff angeheuert gehabt hatte, gab ihre Kompetenz stets nur eine Maske für diese Form der Unzulänglichkeit ab – ein Mittel, um die Tatsache zu verdrängen, daß sie ein unbedeutender Mensch war und noch weniger an Bedeutsamem zustande brachte. Was sie dachte oder wollte, zählte ausschließlich für Leute, die ebenso weitgehend ineffizient wie sie blieben.
Für Leute wie Ciro und Sib. Und Vector.
Wie Morn und Davies.
Also entgegnete sie nichts. Sie hatte nichts mehr zu sagen.
»Was ist es denn, auf das Sie seitens Kapitän Succorsos warten?« wünschte Sib zu erfahren. Vielleicht war er sich über die eigene Bedeutungslosigkeit noch nicht im klaren. Oder er hatte sich längst an seine Unwichtigkeit gewöhnt.
Vestele hob die Schultern. »Ich bin bloß Werkschutzangestellter. Ich mache hier nicht die Politik.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Meines Erachtens will Dr. Beckmann vor allem wissen«, fügte er dann hinzu, »wie Kapitän Succorso seine Vorleistungen zu entgelten gedenkt.«
Das hieß, Mikka und Sib saßen hier fest, bis Vector seine Analyse des VMKP-DA-Antirnutagens vollendet hatte.
Darüber konnten Stunden verstreichen. Oder Tage.
Mikka fragte sich, ob Morn und Davies noch am Leben oder bei Verstand – sein mochten, wenn Nick, sie und seine übrigen Begleiter endlich an Bord der Posaune zurückkehrten. Oder ob Sorus Chatelaine ihnen die Rückkehr aufs Schiff überhaupt gestattete. Zwei weitere Stunden vergingen, bevor Vestele wieder auf Durchsagen aus seinem Radioimplantat lauschte. Er nickte vor sich hin, obwohl seine Vorgesetzten ihn weder
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