Amnion 4: Chaos und Ordnung
Schulter zu, während er die Grafiken sichtete, um festzustellen, wie man vom Materiallager am schnellsten zu der Parkbucht gelangen konnte. Sie ließ ihn suchen. Eine neue Furcht bedrängte sie.
»Wenn wir das machen«, bemerkte sie kaum hörbar, »reißt Nick Morn in Stücke.«
Sib zog den Kopf ein, wischte sich Schweiß oder Starre aus den Augen. »Sie hätte dafür Verständnis«, flüsterte er. »Sie täte das gleiche.«
Dann zeigte er auf die Mattscheibe. »Da.« Er wies auf einen Strang roter Pünktchen, der die kürzeste Strecke zwischen dem Materiallager und der Parkbucht der Sturmvogel markierte.
Mikka hatte den seltsamen Eindruck, er könnte auf irgendeine Weise stärker als sie geworden sein. Trotzdem zögerte sie nicht. »Also los.« Nun zu zaudern durfte sie sich nicht leisten.
Sib schaltete das Datenterminal aus, wandte sich ab, um Mikka zu begleiten – und blieb stehen, weil Werkschutzleiter Retledge das Zimmer betrat.
Retledge hatte einen Werkschutzmann dabei. Beide hatten die Hände ostentativ auf die Griffe ihrer Impacter-Pistolen gelegt.
Der Werkschutzleiter musterte Mikka mit humorlosem Lächeln. »Hier stecken Sie also«, konstatierte er mit gedehnter Stimme. »Was das Rumtreiben betrifft, sind Sie anscheinend so schlimm wie Lumpi. Ich weiß nicht, wozu Kapitän Succorso Ihnen eigentlich Befehle gibt. Offenbar befolgen Sie sie sowieso nicht.« Dann nickte er Sib lebhaft zu. »Entschuldigen Sie, Mr. Mackern, ich spreche nicht von Ihnen. Wenigstens Sie haben soviel Verstand, daß Sie dort bleiben, wohin man Sie schickt.«
Mikka bezähmte ihren Drang zum Aufbrausen; verschränkte die Arme auf dem Busen, um nicht vor Retledges Gesicht die Fäuste zu schütteln. »Sie wollen bitte berücksichtigen«, sagte sie durch die Zähne zu ihm, »daß ich effektiv Kapitän Succorsos Erste Offizierin bin. Mir ist einiges eingefallen, während er und Dr. Shaheed beschäftigt sind, was wir noch gebrauchen könnten, und hab’s für meine Pflicht gehalten zu veranlassen, daß Lumpi die Sachen in seine Bestellung aufnimmt. Von Mr. Klimpt, Ihrem Mitarbeiter, habe ich erfahren, Lumpi hätte sich ›verdrückt‹. Ich bin hergekommen, um festzustellen, ob er bei Mr. Mackern ist.«
»Na klar«, erwiderte Retledge. »Und natürlich glaube ich Ihnen aufs Wort. Sie sehen nicht wie ’ne Frau aus, die Scherereien anzettelt. Aber um ganz sicher sein zu können, soll Vestele lieber ’n bißchen auf Sie achtgeben.« Finsteren Blicks faßte der Werkschutzmann den Pistolengriff fester. »Er wird gewährleisten, daß Sie Ihre restlichen ›Pflichten‹ aufschieben, bis Kapitän Succorso Sie abholt. Und was Klimpt angeht, ihm ziehe ich für diese Schlamperei die Ohren lang. Dr. Beckmann duldet keine Unfähigkeit.«
Mit der schwachen G gut vertraut, drehte er sich ruckartig um und verließ den Raum.
Zur Warnung richtete Vestele seinen grimmigen Blick erst auf Mikka, dann auf Sib. Langsam wich er bis zur Schwelle zurück, vergrößerte den Abstand zu den beiden, verringerte so die Gefahr eines Angriffs. Danach jedoch schwand seine Anspannung oder Argwohn in erheblichem Maß. Er nahm die Hand von der Pistole und wies mit dem Zeigefinger aufs linke Ohr.
»Ich hab ’n Radioimplantat.« Er sprach in unerwartet umgänglichem Ton. »Wenn man Lumpi findet, krieg ich’s mit. Ich sag Ihnen Bescheid. Und ich hör’s auch, falls Kapitän Succorso nach Ihnen fragt.«
Mikka hätte ihm für seine Freundlichkeit danken sollen. Im ersten Moment hatte sie es tatsächlich vor. Doch es fehlte ihr an Kraft. Unter ihr gaben die Beine nach, sie sank in die Hocke nieder. Sie schlang die Arme um die Knie, um zu verhindern, daß ihr Herz vollends zerschmolz, senkte den Kopf und schloß die Lider.
Nick hatte ihre Schwachstelle entdeckt, die Blöße, an der ihr jede Gegenwehr unmöglich wurde. Noch nichts, was er je getan hatte, war für sie schmerzhaft wie dies hier gewesen. Selbst seine überflüssigsten Verführungsabenteuer und die kaltschnäuzigste Zurückweisung hatten sie vergleichsweise wenig getroffen, trotz ihres Kummers und ihrer Wut war sie dadurch im wesentlichen unbeeinträchtigt geblieben; sie hatte dennoch stets den Alltag und ihre Aufgaben zu bewältigen verstanden. Jetzt jedoch litt sie ein solches Elend, daß sie nicht einmal noch zu stehen vermochte. Alles in ihrem Innern bäumte sich vor Qual auf. Daß Nick und Sorus Chatelaine womöglich ihrem Bruder das scheußlichste Unheil zufügten, war mehr, als sie ertragen
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