Amnion 4: Chaos und Ordnung
schenken sollte.
Als Davies die Konnexblende zur Brücke öffnete, sah Morn den Cyborg noch genau dort sitzen, wo sie ihn verlassen hatten: direkt vor – fast unter – der Kommandokonsole.
»Ach du Scheiße«, krächzte Sib. »Was habt ihr mit ihm angestellt?«
Angus’ nackter Rücken war scheußlich anzusehen. Aus aufgeschnittenem und zertrenntem Gewebe sickerte Blut, so wie sein Gesicht Schweiß verströmte; Blutrinnsale näßten ihm längs der Wirbelsäule die Bordmontur. Aus der breiten Wunde, die Davies ihm zwischen seinen Schulterblättern beigebracht hatte, führten feine, silberne Drähte zur Unterseite der Kommandokonsole – ein filigranes, scheinbar beliebig beschaffenes Gespinst, das ihn vor der Stasis bewahrte.
Kleine Werkzeuge, ein Erste-Hilfe-Kasten und Kabel waren in naher Reichweite um ihn verteilt, doch gegenwärtig benutzte er davon nichts. Vielmehr hielt er sich momentan mit den Fingern einen Computerchip vors Gesicht. Er starrte ihn an, als könnte er seine Geheimnisse durch schiere Beschwörung ergründen.
Seinen Data-Nukleus.
Davies achtete nicht auf Sib. »Bist du fertig?« wollte er barsch von Angus wissen.
»So oder so.« Angus’ Antwort ertönte nur als schwächliches, kaum hörbares Raunen. Die Verzweiflung, die ihn zu diesem Schritt getrieben hatte, war verflogen. Seine Stimme klang eher nach einem kleinen Jungen, der zum Hoffen zuviel Furcht hatte. »Mehr kann ich…« Seine Kehle verengte sich; ein Augenblick verstrich, ehe er den Satz beenden konnte. »Mehr kann ich nicht hin.«
Davies zog an Nick, so daß Sib folgen mußte, und stapfte die Stufen des Niedergangs hinab. »Dann wollen wir’s versuchen.«
Angus hob den Data-Nukleus ans Licht; doch sein Kopf sank vornüber, bis es schien, als wartete sein Nacken nur noch auf die Axt.
Davies und Sib legten Nick hinter der Kontrollkonsole des Ersten Offiziers aufs Deck. Nachdem Davies seine Impacter-Pistole Sib ausgehändigt hatte, trat er unverzüglich vor seinen Vater. Wenn er die Liquidator zur Strecke zu bringen beabsichtigte, brauchte er Angus.
Vectors Blick fiel auf Morn. Als sie sich nicht rührte, zuckte er die Achseln und stieg als nächster den Niedergang hinunter.
Morn hatte angenommen, sie würde sich endlich anschließen. Doch sie blieb, wo sie stand, gelähmt durch ihre Unsicherheit. Sie sagte sich, daß sie zögerte, weil sie zu gerne bei Mikka und Ciro nach dem Rechten gesehen hätte. Die Wahrheit jedoch lautete, daß sie plötzlich am liebsten geflohen wäre; sie sich inbrünstig wünschte, Reißaus zu nehmen, bevor Angus die Macht wiedergewann, um ihr zu schaden.
»Morn?« fragte Davies; drängte sie. Er stand neben Angus bereit, wartete auf Morns Erlaubnis.
Nein! forderte ihre Furcht. Nein! Er ist ein Mörder. Ein Vergewaltiger. Er hat mich kaputtgemacht. Seinetwegen bin ich Zonenimplantat-Süchtige. Lieber sähe ich ihn tot. Lieber wäre ich selbst tot.
Aber sie wußte es besser.
Rache war etwas für verlorene Seelen.
Du bist Polizist, hatte sie einmal zu ihrem Sohn gesagt. Und ich will künftig auch Polizistin sein. Polizisten waren Jäger, doch sie gingen nicht aus Vergeltungsdrang auf die Jagd. Wenn sie die Konfrontation mit der Sturmvogel suchte, dann weil Sorus Chatelaine eine Feindin der Menschheit war, nicht weil das Gefecht gegen die Liquidator ihre Mutter das Leben gekostet hatte.
Obwohl Angus ihr Entsetzen einflößte, jeder Moment des Leidens, der ihr von ihm bereitet worden war, ihr in der Brust Beklemmungen verursachte, hatte sie zu ihm gesagt: Wir vertrauen dir.
Jetzt oder nie.
Aufs Geländer gestützt, setzte sie den Fuß auf die Stufen zur Brücke.
»Dann also los, tu’s«, sagte sie trotz ihres Grausens. »Wir sind so weit gegangen, daß es jetzt widersinnig wäre, einen Rückzieher zu machen.«
»Sehr richtig.«
Davies nahm Angus den Data-Nukleus aus den Fingern, trat hinter seinen Vater und kniete sich hin.
»Was soll er tun?« erkundigte sich Sib. Er erweckte den Eindruck, als wäre ihm aus mangelndem Durchblick und Bangheit speiübel. »Ich verstehe überhaupt nicht, was hier vorgeht. Was treibt ihr da?«
Morn hatte den Niedergang hinter sich gebracht. Sobald sie die Hand vom Geländer löste, legte sie sie auf Sibs Schulter, teils um ihn zu beschwichtigen, teils um die eigene Balance zu behalten.
»Angus behauptet zu wissen, wie man einen Data-Nukleus frisiert.« Das war die beste Antwort, die sie zu geben wußte; zu umfangreichen Erläuterungen hatte sie keinen Mumm.
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