Amnion 5: Heute sterben alle Götter
Und ihr Beispiel inspirierte auch ihre Untergebenen zur Treue. Trotz seines aufsässigen Charakters würde ihr im Notfall sogar Kapitänhauptmann Dolph Ubikwe gehorchen.
Aber Warden Dios glaubte, daß sie ebenso imstande war zur Befehlsverweigerung. Er mußte die Situation unter eigene Kontrolle bringen, ehe sie seinem Einfluß entglitt. »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete er im Namen der Posaune und der Rächer, aber auch um seiner selbst willen, »was Sie mit ›keine Weise‹ sagen wollen. Nur kommt es auf das alles ja sowieso nicht an. Wesentlich ist bloß eins. Ich lehne ab.«
Vestabules starres Amnionauge offenbarte nichts. Dagegen blinzelte sein menschliches Auge offenbar in höchster Bestürzung. Sein menschliches Erbteil mochte schwierig zu funktionalisieren sein, aber es war noch vorhanden; es konstituierte den Teil seines Verstands, der ihn dazu befähigte, bei Verhandlungen zu lügen, sie unter Anwendung von Druckmitteln zu führen.
»Ich weiß genau, warum Sie Morn und Davies Hyland unbedingt in ihren Klauen haben wollen«, erklärte Warden Dios voller Erbitterung. »Bei mir sind Mitteilungen eingegangen, die mir die Lage erklären. Sie riskieren keinen Krieg, bloß um sich ›Mobilien‹ zurückzuholen. Ihnen sind die beiden so wichtig, weil Sie glauben, daß sie das Wissen verkörpern, das Sie brauchen, um uns zu besiegen. Um die Menschheit vollständig auszuradieren.« In seinem Tonfall schwang Zorn mit. »Und von Vector Shaheed wollen Sie, daß er Ihnen dabei hilft, gegen uns Abwehrmittel auszubrüten. Sie verlangen zuviel.« Endlich ließ er zu, daß er laut wurde. »Ich bringe doch nicht meine gesamte Spezies in Gefahr, indem ich ihnen befehle oder sie bitte, sich Ihnen zu stellen!«
Trotz aller Betroffenheit und Entrüstung war seine Weigerung jedoch eine Unehrlichkeit: eine ebenso große Unwahrheit wie Vestabules Lüge. Vor dem Überleben einiger Millionen Menschen hatte das Überdauern der ganzen Menschheit Vorrang. Aber Warden Dios sah Anlaß zu der Sorge, der Verlust dieser Leben könnte zum Resultat haben, daß Holt Fasner an den Platz des Regierungskonzils aufstieg; Fasner zur Einmannregierung wurde, zur einzigen Großmacht des Human-Kosmos. Und kam es dazu, gefährdete es gleichfalls den Fortbestand der Menschheit.
Die wenigen Millionen Menschen am Leben zu erhalten und Koina Hannish die Gelegenheit zu einem Schlag gegen den Drachen zu geben, mochte das Risiko wert sein, Stiller Horizont Morn und Davies Hyland, Angus Thermopyle und Vector Shaheed zu überlassen.
Zudem ließen andere Möglichkeiten – noch zu nebulös, um sie zu erkennen, gleichzeitig jedoch zu verheißungsvoll, um sie zu mißachten – sich nicht ausschließen. Warden Dios hatte über seine letztendliche Antwort an Vestabule noch nicht entschieden. Er hielt sich zurück, um Vestabule zum Handeln zu nötigen; den Amnioni zur Preisgabe seiner Lüge zu verleiten.
Marc Vestabule saß ihm reglos gegenüber. Für einen längeren Moment sprach der Amnioni keinen Ton. Seine IR-Aura brodelte und strudelte wahrhaftig wie die Ausstrahlung eines Dämons. Als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme monoton und emotionslos, bezeugte völlige Verschlossenheit. Die Einlassungen, die sein entstellter Mund äußerte, glichen einem rostigen Auswurf des Verderbens.
»Es ist für uns ein Nachteil, daß wir uns nicht auf Täuschung verstehen. Für uns sind Lügen nicht…« – er wirkte, als durchforschte er sein Gedächtnis – »…vorstellbar?« Er bekräftige die Wortwahl mit einem Nicken. »Nicht vorstellbar. Unsere Verständigung geschieht mittels Geruch und Geräusch, in gewissem Umfang auch visuell. Pheromone lügen nicht. Tönungen und Schattierungen lügen nicht. Aus diesem Grund sind wir in dieser Kammer allein. Andere Amnion würden durch unsere Diskussion verstört.«
Verstört durch die Wahrnehmung von Arglist…
»Auch ich fühle mich verstört«, räumte Vestabule ein. »Aber ich entsinne mich mancher Eigenheiten meiner einstigen menschlichen Natur und früherer Erlebnisse. Insbesondere erinnere ich mich an Kapitän Thermopyle.«
Verdutzt sperrte Warden Dios unwillkürlich die Augen auf. Woher kannte der Amnioni Angus Thermopyle?
Marc Vestabule zögerte nicht mit der Erklärung. »Vielleicht stand er schon damals in Ihren Diensten. Ich weiß es nicht. Ich entsinne mich jedoch, daß er das Raumschiff, auf dem ich flog, gekapert hat. Ich erinnere mich, daß er achtundzwanzig Menschen nach Kassafort gebracht
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