Amok: Thriller (German Edition)
passiert wäre.« Alice schüttelte den Kopf. »Da bin ich einfach ausgerastet. Ich hatte eine Einkaufstasche dabei. Ich habe eine Flasche Wein herausgezogen und sie durch sein Wohnzimmerfenster geschmissen.«
Julia hielt erschrocken die Luft an. »War jemand zu Hause?«
»Seine Frau, aber die war zum Glück gerade oben. Ich bin dann reingegangen, hab eine andere Flasche aufgemacht und sie fast in einem Zug ausgetrunken. Und dann hab ich zwei Packungen Paracetamol geschluckt. Nur weil die Grangers die Polizei gerufen hatten, haben sie mich noch rechtzeitig gefunden.« Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung zu verdrängen. »Danach konnte ich nicht mehr hoffen, dass mir noch irgendjemand die Kinder anvertrauen würde.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Julia. »Hat man Ihnen keine Hilfe angeboten?«
»O doch. Alle möglichen aufwendigen Therapien. Sie meinten, ich hätte irgend so ein posttraumatisches Dings.«
»Posttraumatische Belastungsstörung. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss.«
»Vielleicht nicht in Ihrem Fall. Ich bin doch nur davongelaufen und habe mich verkrochen. Ich habe keine Hilfe verdient.«
Sie beugte sich vor, bis ihr Kopf fast ihre Knie berührte, das Gesicht in den Händen vergraben, während stumme Tränen ihren Körper erzittern ließen. Julia sah eine Weile hilflos zu. Schließlich rückte sie ein Stück näher, um Alice die Hand auf den Rücken zu legen und sie sanft zu streicheln.
»Es ist doch nicht nötig, dass Sie sich so quälen.«
»Doch, das ist es«, sagte Alice. »Weil es nämlich keine posttraumatische Belastungsstörung oder so etwas ist. Sondern meine Schuldgefühle.«
Und jetzt begriff Julia. Sie wusste, warum Alice hierhergekommen war. Warum sie sich entschieden hatte, noch einmal davonzulaufen und sich zu verstecken.
»Sie haben ihn gehört, nicht wahr? Den zweiten Schützen?«
Es war lange still. Dann sagte Alice im Flüsterton: »Ich habe ihn gesehen.«
Julia schwieg. Ihr war, als hätte sie plötzlich einen schweren Klumpen im Magen. Schließlich richtete Alice sich auf und nahm die Hände aus dem Gesicht. Ihre Augen waren rot und verweint.
»Ich habe etwas gehört, das keinen Sinn ergab. Ich wartete eine Weile und beschloss dann, noch einmal einen Blick zu riskieren. Zu dem Zeitpunkt müssen Sie schon auf dem Baum gewesen sein. Ich habe ihn gesehen – einen Mann in einer Motorradkombi. Er stand bei Carl und hielt die Pistole in der Hand.«
»Das war, nachdem er Carl erschossen hatte?«
»Ja. Ich wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war, also habe ich gewartet, bis ich die Polizeisirene hörte.«
»Warum haben Sie der Polizei nichts gesagt?«, fragte Julia, bemüht, nicht zu viel Bitterkeit in ihre Stimme zu legen.
»Als sie meine Aussage aufnahmen, hat mich niemand nach ihm gefragt. Sie redeten alle so, als ob Carl sich selbst erschossen hätte. Ich kam mir so schon vor wie ein Feigling, weil ich nicht versucht hatte, Ihnen zu helfen. Ich dachte … wenn ich es ihnen sagte, würden sie mich wahrscheinlich nur auslachen.«
Julia konnte nur betrübt nicken. Wenn sie sich die Skepsis ins Gedächtnis rief, mit der ihre eigene Aussage aufgenommen worden war, dann hatte Alice wahrscheinlich sogar recht.
»Und deswegen sind Sie hier, nicht wahr?«
»Ich habe solche Angst«, sagte Alice. »Ich habe solche Angst, dass er mich hier aufspüren könnte.«
Julia nahm ihre Hand. »Sich verstecken ist keine Lösung. Mir ging es zuerst genau wie Ihnen, aber es hat nicht funktioniert.« Sie hielt inne und überlegte, wie viel sie preisgeben durfte. Alice spürte es und sah sie fragend an.
»Auf die Pension, in der ich bis vor kurzem gewohnt habe, wurde ein Brandanschlag verübt.«
Alice stockte der Atem. »War er das?«
»Ich glaube, ja.«
»Und die Polizei? Sieht sie das auch so?«
Ein wissender Ausdruck lag in Alices Blick, eine Härte, geboren aus Zynismus. Julia fürchtete, dass sie einen aussichtslosen Kampf führte, und doch zwang irgendetwas sie, es weiter zu versuchen.
»Wir sollten beide zur Polizei gehen. Wenn wir zu zweit sind, ist die Chance größer, dass wir sie überzeugen können.«
Alice blieb hart. »Was ist, wenn der Mörder es herausfindet? Was ist, wenn er sich an meinen Kindern vergreift?«
Julia seufzte. Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass Alice recht hatte.
»Ihr Mann glaubt, es sei seine Schuld«, sagte sie. »Er vermisst Sie ganz schrecklich.«
»Ich kann es ihm nicht sagen«, erwiderte Alice. »Ich
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