Amok: Thriller (German Edition)
so weit aus, wie das Klebeband es zuließ, und tastete den kalten Jeansstoff ab, bis sie – mit einem kleinen Dankgebet an Keith Caplan – das glatte Leder des Gürtels fühlte.
Sie lächelte. Jede Sekunde, die du am Leben bleibst …
72
Vanessa schien eine Ewigkeit zu brauchen, um zu ihnen ins Zimmer zu kommen. Sowohl George als auch Craig erboten sich, ihr zu helfen, doch sie scheuchte sie weg. Georges Vorschlag, dass sie sich wieder ins Bett legen solle, tat sie ebenso barsch ab.
»Nein«, sagte sie. »Ich will wissen, was los ist.«
Die beiden Männer starrten einander an. Craig räusperte sich und sagte: »Ich muss mit Ihrem Neffen sprechen. Julia Trent ist verschwunden.«
Vanessa hatte inzwischen einen Stuhl mit hoher Lehne erreicht und brachte sich mit schlurfenden Schritten in die richtige Position, um sich darauf niederzulassen. Craig musste den Impuls unterdrücken, ihr dabei zu helfen; die grimmige Entschlossenheit in ihrer Miene verriet ihm, dass sein Angebot nicht willkommen wäre. Aus der Nähe betrachtet war ihre Haut unglaublich dünn und durchscheinend, als könnte sie jederzeit reißen wie verschlissener Stoff.
»Ich sehe die Verbindung nicht«, sagte sie.
»Craig glaubt …«, begann George und stockte dann.
»Ich glaube, dass Toby in das Massaker verwickelt war«, sagte Craig. Auch seine Stimme war jetzt unsicher. Trotz ihrer Hinfälligkeit – oder vielleicht gerade deswegen – hatte Vanessas Auftreten etwas Stolzes und Gebieterisches. Die beiden Männer sprachen kein Wort, während sie sich vorsichtig auf den Stuhl niederließ und ihren Morgenmantel zurechtzupfte.
»Inwiefern verwickelt?«, fragte sie.
»Der zweite Schütze, den Julia beschrieben hat«, erklärte George. »Nachdem Alice Jones sich jetzt an die Öffentlichkeit gewandt hat, müssen wir wohl akzeptieren -«
»Sie verdächtigen Toby?«, fiel ihm Vanessa ins Wort. Craig spürte, wie ihm die heiße Schamröte ins Gesicht stieg. Die bloße Anwesenheit dieser alten, todgeweihten Frau ließ seine Anschuldigungen beleidigend und ungehörig, ja unglaubwürdig wirken.
»Er glaubt, dass ich auch etwas damit zu tun hatte«, fügte George hinzu.
Vanessas Blick schnellte von ihrem Mann zu Craig. »Das glaube ich eher nicht«, sagte sie in nachsichtigem Ton, als spräche sie mit einem kleinen Jungen. Dann wandte sie sich wieder an George, starrte ihn an mit Augen wie glühende Kohlen. »Hast du es ihm nicht erzählt?«
George zuckte nervös. »Was soll ich ihm erzählt haben?«
»Von Laura«, sagte Vanessa und zog ein zerknittertes Foto aus der Tasche. Sie warf es vor sich auf den Boden und lächelte spöttisch. »Von der Frau, die du geliebt hast.«
Julia wusste genau, wie sie sich befreien würde. Sie hatte sich alles schon im Kopf zurechtgelegt, aber das wirkliche Leben weigerte sich hartnäckig mitzuspielen.
Der Gürtel hatte eine dicke Schnalle aus poliertem Stahl. Der Dorn in der Mitte war drei oder vier Zentimeter lang und an der Spitze abgerundet. Trotzdem schätzte sie, dass es ihr mit genügend Druck gelingen könnte, das Klebeband um ihre Handgelenke damit zu durchstoßen.
Zuerst versuchte sie es, indem sie den Dorn aufrecht stellte und mit den Handgelenken von oben darauf drückte. Das Problem dabei war, dass der Dorn immer wieder seitlich wegkippte. Weil sie blind arbeiten musste, mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen, konnte sie nicht feststellen, ob sie ihn richtig positioniert hatte, bevor sie ihr Gewicht darauf legte. Sie vergeudete eine Menge Zeit und Energie und war am Ende frustriert und den Tränen nahe.
Es würde nicht funktionieren, dachte sie. Sie konnte nicht davon ausgehen, mehr als eine halbe Stunde zur Verfügung zu haben. Davon hatte sie bereits zehn oder fünfzehn Minuten vertan. Die Verzweiflung war wie eine lauernde Bestie, die auf den richtigen Augenblick wartete, um sich auf sie zu stürzen. Julia musste gegen den Drang ankämpfen, sich ihr einfach zu ergeben.
Dann hatte sie eine Eingebung: Sie musste ihre Hände nach vorne holen.
Sie ließ sich auf die Seite fallen und zog die Knie zum Kinn hoch. Dabei dankte sie Gott für die Pfunde, die sie in den letzten Monaten verloren hatte. Auch so war es noch mühsam genug, die Hände über das Gesäß zu streifen. Durch den Druck schnitt das Klebeband tief in die Haut an ihren Handgelenken ein. Sie spürte ein Reißen in den Schultern und biss die Zähne zusammen. Sie musste es schaffen.
Mit einem Schmerzenslaut, der
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