Amok: Thriller (German Edition)
könnte.
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Sie erwachte an einem trüben Morgen mit dem Geräusch des Regens in den Ohren, der auf das Dach trommelte. Dann brach die Sonne durch die Wolken, und die Vögel begannen lautstark den Anbruch des neuen Tages zu feiern. Julia lag im Bett und lauschte ihnen, und mit einer Art ehrfürchtigem Staunen wurde ihr klar, dass sie nicht nur am Leben war, sondern seit vielen Tagen zum ersten Mal ernsthaft hoffen konnte, auch weiterhin am Leben zu bleiben und irgendwann wieder gesund und glücklich zu werden.
Kendrick hatte zwar auf sie geschossen, sie aber weit verfehlt, unter anderem, weil sie im Moment des Schusses schon zusammengebrochen war. Dass sie überlebt hatte, verdankte sie allein Craig. Er war es, der entschieden hatte, dass ihre ärztliche Versorgung absoluten Vorrang vor der Verfolgung Kendricks haben musste.
Zusammen mit George hatte er sie zu seinem Wagen getragen und war mit ihr in einem Höllentempo nach Haywards Heath gerast, wo die nächste Notaufnahme war. Dort wurde sie sofort notoperiert, um die inneren Blutungen zu stoppen. Die Ärzte diagnostizierten zudem eine Lungenentzündung, und sie musste die nächsten zwei Wochen im Krankenhaus verbringen.
Als die Nachricht von den Ereignissen die Runde machte, nahm das Medieninteresse noch hysterischere Formen an als beim ersten Mal. Julia musste streng bewacht werden; die Einzigen, die sie regelmäßig besuchen durften, waren ihr Bruder und dessen Frau – und Craig, dessen Messerwunde im Oberschenkel mit zwei Dutzend Stichen hatte genäht werden müssen.
Es war Craig, der sie über die polizeilichen Ermittlungen auf dem Laufenden hielt. Von Kendrick fehlte nach wie vor jede Spur; allerdings waren die zwei Männer, mit denen er mutmaßlich geflüchtet war, später tot aufgefunden worden. Ihr Jeep war auf einem Industriegelände in Folkestone abgestellt worden, doch die Polizei hielt das Ganze für ein Ablenkungsmanöver: Es sollte so aussehen, als habe er England auf diesem Wege verlassen. Craigs Kontaktmann bei der Polizei, DI Sullivan, war ein Stück außerhalb des Dorfs mit einer Kugel in der Wirbelsäule gefunden worden; es war noch zweifelhaft, ob er je wieder würde gehen können.
Kendricks Skrupellosigkeit wurde vollends deutlich, als Craig von der Polizei erfuhr, dass er Moss vermutlich mit voller Absicht erschossen hatte. Es sollten keine Zeugen übrig bleiben, die seinen Aufenthaltsort verraten könnten. Es dauerte mehrere Tage, bis sie das Haus in Berkshire ausfindig gemacht hatten, das er gemietet hatte, doch da war es bereits eine ausgebrannte Ruine. Es ließ sich nicht feststellen, wie lange Kendrick dort gewohnt hatte oder was er bei seiner Flucht alles mitgenommen hatte.
Danach verlor sich seine Spur. Julia verstand jetzt, was er gemeint hatte, als er gesagt hatte, wie leicht es für ihn wäre, sich aus der Affäre zu ziehen. Für einen Mann, der über ein Jahrzehnt mit einer falschen Identität gelebt hatte, wäre es kein Problem, sich noch einmal eine neue zuzulegen und anderswo ein neues Leben zu beginnen.
Craig und Julia standen damit vor einer entscheidenden Frage: Stellte Kendrick weiterhin eine Bedrohung für sie dar?
Der leitende Ermittlungsbeamte spielte die Gefahr herunter, als ihm schließlich erlaubt wurde, mit Julia zu sprechen. »Er ist längst über alle Berge, da bin ich mir sicher. Sie haben wirklich keine Veranlassung, den Rest Ihres Lebens in ständiger Angst vor diesem Mann zu verbringen.«
Julia selbst sah nicht ganz so viel Grund zur Zuversicht, aber in gewisser Weise war es auch nebensächlich, wie die Polizei die Lage einschätzte. Ihre Sicherheit konnte sie ohnehin nicht garantieren. Sie und Craig – und im Übrigen auch George – würden einfach mit dem Risiko leben müssen.
Sie wurde unter der Voraussetzung aus dem Krankenhaus entlassen, dass sie eine lange Genesungszeit im alten Schulhaus verbringen würde, wo Craig sich um sie kümmerte. Diesmal beabsichtigte sie, den Rat ihres Arztes strikt zu befolgen.
Aber zunächst einmal musste sie sich mit den Medien auseinandersetzen. Craig riet ihr, sich nicht vor ihnen zu verstecken. »Sie sind wie Jäger«, sagte er. »Es ist der schiere Jagdeifer, der sie antreibt. Stell dich ihnen, und sie werden sehr bald das Interesse verlieren.«
Und er sollte recht behalten. Sie gab mehrere Zeitungsinterviews, hatte einen Fernsehauftritt, und dann ließ man sie in Ruhe. Die Welt hatte sich inzwischen anderen, aktuelleren Tragödien zugewandt.
Die
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