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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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erinnern mich an Mea Shearim, das Viertel der orthodoxen Juden in Jerusalem. Nur dass in Mea Shearim wirklich Juden wohnen. Der Stadtführer erzählt, dass in Krakau vor dem Zweiten Weltkrieg 70 000  Juden lebten, jetzt sind es nur noch ein paar Hundert. Die meisten Menschen jüdischen Glaubens, die heute durch Kazimierz laufen, sind Touristen. Meine Besuchergruppe besteht aus sechs Leuten, ich möchte wissen, woher sie kommen. Sie antworten: Polen, USA , Frankreich. Woher ich komme, fragen sie. Deutschland, aha! Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Göth mit Namen heiß …
    Über meine Familiengeschichte habe ich bisher mit kaum jemandem gesprochen, nur mit meinem Mann, meiner Adoptivfamilie und einer engen Freundin. Nicht, weil ich denke, ich müsse mich dafür schämen, sondern weil ich selbst nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Es fällt mir schwer, mein Wissen zu teilen. Soll ich zu anderen Menschen etwa sagen: «Ach übrigens, ich bin die Enkelin eines Massenmörders.» Meine Geschichte überfordert mich, und ich will jetzt niemanden damit belasten. Noch nicht.
    Unsere kleine Reisegruppe geht weiter, über eine Brücke auf die andere Seite der Weichsel, in das an Kazimierz angrenzende Viertel Podgorze. Hier wurden alle jüdischen Bewohner der Stadt in einem Ghetto zusammengepfercht. Durch das Ghetto fuhr noch eine Straßenbahnlinie, die die Bewohner Krakaus in benachbarte Viertel brachte. Im Ghetto durfte niemand ein- oder aussteigen, es gab keine Haltestelle, Türen und Fenster wurden bei der Fahrt versiegelt. Wie war den Krakauern wohl zumute, wenn sie durch dieses Viertel fuhren?
    Heute steht am Platz, der früher das Zentrum des Ghettos war, ein großes Bürohaus, auch einen Busbahnhof gibt es hier. Am Rand sind noch Reste der Ghettomauern erhalten. Diese hohen Mauern, die die Menschen umschlossen, besitzen oben Rundbögen, sie wurden in Form jüdischer Grabsteine gebaut. Die Botschaft an die Juden: Hier kommt ihr nicht mehr lebend raus.
    Der «Platz der Ghettohelden» erinnert an die Opfer. Dort stehen jetzt leere überlebensgroße Stühle, die ein Gefühl für die Situation nach der Räumung des Ghettos vermitteln sollen: Alles war verwüstet; auf den Straßen war kein Mensch mehr zu sehen, nur noch Möbel und andere Habseligkeiten, die die Juden zurücklassen mussten. Mir ist die Installation zu kühl, zu unkonkret. Bei der Räumung des Ghettos wurden Hunderte von Menschen erschossen. Jeder Stuhl steht für 1000  Juden, die umgebracht wurden. Die Grausamkeiten, die hier begangen wurden, bleiben abstrakt. Aber wie soll man sie auch zeigen? Der Film «Schindlers Liste» ist sehr pointiert, aber trotzdem sagen Überlebende, dass auch er nicht annähernd das Grauen vermittelt, das von Amon Göth ausging.
    In Krakau vor den Mauern des ehemaligen jüdischen Ghettos
    *
    Tadeusz Pankiewicz, ein polnischer Apotheker im Krakauer Ghetto, beschrieb Göth als großen, gutaussehenden Mann mit blauen Augen, in einen schwarzen Ledermantel gekleidet und mit einer Reitpeitsche in der Hand. Während der Räumung des Ghettos habe Amon Göth Müttern ihre kleinen Kinder aus den Händen gerissen und zu Boden geworfen, berichteten Überlebende.
    Vor der Räumung lebten im Krakauer Ghetto rund 20 000  Menschen auf engstem Raum und in ständiger Todesangst.
    Als Amon Göth das Ghetto am 13 . und 14 . März 1943 auflösen ließ, waren die Menschen im Ghetto bereits auf zwei Bereiche aufgeteilt worden: In Ghetto A wohnten die, die fürs Erste überleben durften – sie waren als arbeitsfähig eingestuft worden und sollten ins Lager Płaszów transportiert werden. In Ghetto B, von Ghetto A durch Stacheldraht getrennt, lebten Alte, Kranke und Kinder, sie sollten umgebracht werden.
    Keiner sollte entkommen. Göths Leute durchkämmten die Gassen, suchten in jeder Wohnung, unter jedem Bett. In den Krankenhäusern wurden die Patienten in ihren Betten erschossen. Tadeusz Pankiewicz beschrieb die Szenerie nach der Auflösung des Ghettos so: «Es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld – Tausende Pakete, verlassene Gepäckstücke … auf dem vom Blut nassen Asphalt.»
    *
    Wir gehen weiter. Es regnet, wir müssen uns immer wieder unterstellen. Eine nette ältere Dame nimmt mich mit unter ihren Schirm. Durch eine zugige Unterführung gehen wir in ein Industriegebiet. Vor einem grauen, dreistöckigen Verwaltungsgebäude aus den 1930 er Jahren bleiben wir stehen: Die ehemalige Emaillefabrik von Oskar Schindler in der

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