Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
war noch ein Baby, da wurde er gehenkt. Immer wieder haben Überlebende ihr gesagt, wie ähnlich sie ihm sehe. Wie furchtbar muss das für sie gewesen sein.
Bin ich ihm ähnlich? Durch meine Hautfarbe grenze ich mich von ihm ab. Ich stelle mir vor, ich hätte neben ihm gestanden. Beide sind wir groß. Ich mit meinen 1 , 83 Metern. Er maß 1 , 93 Meter, für die damalige Zeit war er ein Riese.
Er in seiner schwarzen Uniform mit den Totenköpfen, ich, das schwarze Enkelkind. Was hätte er zu einer dunklen Enkeltochter gesagt, die noch dazu Hebräisch spricht? Ich wäre für ihn nur ein Schandfleck gewesen, ein Bastard, der die Familienehre beschmutzt. Mein Großvater hätte mich bestimmt erschossen.
Meine Großmutter hat sich nie an meiner Hautfarbe gestört. Sie freute sich immer, wenn ich zu Besuch kam. Auch wenn ich damals noch so klein war: Kinder spüren, ob jemand sie mag. Und sie mochte mich. Sie ist mir so nah. Aber sie hat auch Amon Göth umarmt, wenn er vom Töten zurückkam. Wie konnte sie mit ihm Tisch und Bett teilen? Sie sagte, sie hat ihn geliebt. Soll das reichen als Entschuldigung? Reicht es mir? War denn irgendetwas an Amon Göth liebenswert, darf man darüber überhaupt nachdenken?
Blicke ich in den Spiegel, sehe ich zwei Gesichter. Seins und meins. Und noch ein drittes: das meiner Mutter.
Das energische Kinn haben wir alle drei. Die gleichen Falten zwischen Nase und Mund.
Die Körpergröße, die Gesichtsfalten – sie sind nur das Äußere. Aber wie sieht es in mir aus? Wie viel Amon Göth steckt in mir? Wie viel Amon Göth steckt in jedem von uns?
Ich glaube, dass wir alle Anteile von Amon Göth in uns tragen. Würde ich glauben, bei mir seien es mehr, so würde ich wie ein Nazi denken und an die Macht des Blutes glauben.
Plötzlich, in die Stille hinein, sagt Malgorzata, die Polin, die in der Villa für mich dolmetscht, dass sie einmal die Tochter von Amon Göth kennengelernt habe, Monika Göth. Ich frage nach, sie erzählt: Meine Mutter habe zusammen mit einer polnischen Schulklasse die Villa besucht. Noch ein zweiter Nazi-Nachkomme war dabei: Niklas Frank – der Sohn von Hans Frank, unter Hitler Generalgouverneur im besetzten Polen.
Malgorzata weiß ja nicht, wer ich bin. Ich frage, welchen Eindruck sie von meiner Mutter hatte. «Ich fand sie merkwürdig – und traurig», antwortet Malgorzata: «Niklas Frank und Monika Göth, die konnten beide nicht lachen.» Dann erzählt sie: Hier in diesem Haus habe Monika Göth einen Türpfosten berührt und gesagt, dass sie ihren Vater liebe.
Die Hand meiner Mutter an der Tür. Aus Hunderten von deutschsprachigen Stadtführern in Krakau habe ich ausgerechnet diejenige herausgesucht, die meine Mutter getroffen hat.
Ich sage Malgorzata, wer ich bin. Ihre Reaktion: erst ungläubig, dann irritiert und verwirrt. Ich entschuldige mich bei ihr. Um mehr über meine Mutter zu erfahren, habe ich zuerst nachgefragt, ohne meine Identität preiszugeben. Ich hoffe, sie hat Verständnis für meine Situation.
Ich hatte mir fest vorgenommen, noch in diesem Jahr endlich Kontakt zu meiner Mutter aufzunehmen. Das Jahr ist fast vorbei, es ist jetzt Herbst.
Ich will meiner Mutter erst schreiben, wenn ich mich besser darauf vorbereitet fühle.
In dem Dokumentarfilm über ihre Begegnung mit Helen, dem ehemaligen Dienstmädchen Amon Göths, weint meine Mutter immer wieder. Ich sehe, wie sie die Geschichte ihres Vaters belastet. Krakau ist für sie ein besonderer Ort. Ich dachte, ich würde meine Mutter besser verstehen können, wenn ich auch diesen Ort kennenlerne.
Der alte Mann bringt mich und Malgorzata zum Ausgang. Ich schließe die Tür fest hinter mir.
Ich habe noch eine organisierte Tour gebucht: Krakau, auf den Spuren von Oskar Schindler.
Ich nehme ein Taxi und fahre zum Treffpunkt nach Kazimierz, ins ehemalige jüdische Viertel Krakaus. Im Sommer soll Kazimierz malerisch und lieblich sein, jetzt wirkt es düster und dunkel. Die Pflastersteine sind nass vom Regen. Unsere Touristengruppe besichtigt den alten jüdischen Friedhof, eine Synagoge und auch einige Schauplätze aus «Schindlers Liste». Wir sehen idyllische Hinterhöfe und schmale Gassen.
In vielen Restaurants in Kazimierz gibt es «gefillte Fisch», und das Fleisch ist koscher. In liebevoll eingerichteten Cafés läuft rund um die Uhr Klezmer-Musik. Der Rhythmus einer untergegangenen Zeit. Das ganze Viertel hat etwas Museales, Morbides.
Die kleinen engen Gassen und die groben Pflastersteine
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