Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Ich begriff nicht, was meine Großmutter gegen Tränen hatte.
Sie war keine Oma im klassischen Sinne. Ich durfte sie auch nicht Oma nennen, sondern nur Irene. Vielleicht wollte sie nicht für alt gehalten werden. Ihr wird nachgesagt, dass sie auf ihre Schönheit, auf ihr Äußeres sehr bedacht gewesen sei. Auch meine Mutter nannte sie nur beim Vornamen, so steht es in dem Buch über sie.
Ich erinnere mich an die Wohnung meiner Großmutter in der Schwindstraße in Schwabing. Wir saßen meist in ihrer Wohnküche. Dort lief oft der amerikanische Sender AFN . Bis heute höre ich gern englischsprachiges Radio; in Hamburg lange Zeit einen englischen Militärsender, in Israel «The Voice of Peace».
Ein richtiges Wohnzimmer gab es nicht. Bei meiner Adoptivfamilie in Waldtrudering wurde zu Hause auf dem Sofa gefaulenzt, man zog sich bequeme «Hauskleidung» an. Das war bei Irene undenkbar. Ich fühlte mich bei meiner Großmutter zwar immer wohl, aber doch wie eine Besucherin. Sie war immer schick angezogen und gut zurechtgemacht, alles war ein bisschen förmlich. Die Küche war stets geputzt und aufgeräumt. Gekocht oder gebacken wurde dort nicht.
Leider habe ich viel zu wenige konkrete Erinnerungen an sie, ich verbinde mit ihr ein kindliches Gefühl: Jemand, der sich kümmert. Jemand, der einen schützt.
Wenn meine Mutter mich aus dem Kinderheim oder später bei meiner Pflegefamilie abholte und zu meiner Großmutter nach Schwabing brachte, bedeutete das: Ich musste nicht ins Hasenbergl, nicht in die Wohnung meiner Mutter.
Bei meiner Mutter kam ich ja nicht in eine intakte Familie: Ihr damaliger Mann Hagen, ein Trinker und Schläger, war für mich eine ständige Bedrohung. Ich wusste nie: Würde er da sein oder nicht? Wenn er nicht da war, hoffte ich, er käme auch nicht mehr. Ich lauschte auf das Geräusch seines Schlüssels im Schloss, seiner Schritte im Flur.
Bei meiner Großmutter war ich sicher. Wenn ich ihre Wohnküche betrat, war alles in Ordnung.
*
Helen Rosenzweig, das ehemalige jüdische Dienstmädchen Amon Göths, sagte später über Ruth Irene Kalder: «Einmal kam sie runter zu uns in die Küche. Sie streckte uns die Hände entgegen und sagte: Wenn ich könnte, würde ich euch nach Hause schicken, aber es liegt nicht in meiner Macht.»
In Amon Göths Villa waren die beiden Dienstmädchen Helen Hirsch und Helen Rosenzweig seinen ständigen Misshandlungen ausgesetzt: Er rief sie, indem er nach ihnen schrie oder auf eine Klingel drückte, die im ganzen Haus zu hören war. Oft schlug er sie, wenn sie nicht schnell genug herbeieilten. Unter Göths Schlägen platzte Helen Hirschs linkes Trommelfell, sie blieb taub auf diesem Ohr. Helen Rosenzweig erzählte: «Unzählige Male hat er mich die Treppe hinuntergestoßen. Als ich in seiner Gewalt war, verlor ich die Angst vor dem Tod, ich war mir sicher, er würde mich so oder so töten. Es war wie vierundzwanzig Stunden am Tag unter dem Galgen zu leben.»
Ruth Irene Kalder berichtete später ihrer Tochter Monika, sie habe sich dazwischengeworfen, als Amon Göth einmal mit einem Ochsenziemer – ein getrockneter Bullenpenis, der im KZ als Schlagwaffe eingesetzt wurde – eines seiner Dienstmädchen schlagen wollte. Dabei habe Amon Göth dann sie getroffen, was ihm sehr leidgetan habe. Er habe fast geweint, sich immer wieder bei ihr entschuldigt und danach nie wieder einen Ochsenziemer im Haus benutzt. Ihrer Tochter Monika erzählte Ruth Irene Kalder auch eine andere groteske Begebenheit: Sie habe Amon Göth gedroht, «nicht mehr mit ihm zu schlafen, wenn er weiter auf Juden schieße». Angeblich habe das gewirkt.
Helen Rosenzweig glaubte, «ein Mindestmaß an Menschlichkeit» in Ruth Irene Kalder zu erkennen, zum Beispiel habe sie die Dienstmädchen ausdrücklich im Beisein von Amon Göth gelobt und sie immer mit Respekt behandelt.
Als Helen Rosenzweigs Schwestern aus Płaszów weggebracht werden sollten – wohl nach Auschwitz –, rannte Helen Hirsch zu Ruth Irene Kalder und bat sie, die Deportation zu verhindern. Ruth Irene Kalder weigerte sich zunächst: «Bitte verlang von mir nicht, dass ich das tue!» Schließlich gab sie nach und verhinderte mit einem Anruf bei der Lagerpolizei die Deportation der Rosenzweig-Schwestern. Als Ruth Irene Kalder später Amon Göth ihre eigenmächtige Rettungsaktion gestand, lief der nach Aussage von Helen Hirsch wütend mit dem Gewehr in die Küche zu den Dienstmädchen, beruhigte sich dann aber wieder.
Helen Hirsch
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