Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
verwaiste oder vernachlässigte Kinder war eine gelebte Tradition in der Familie. Mein Adoptivvater ist ganz selbstverständlich mit einer Reihe von Pflegekindern aufgewachsen, deshalb war es für ihn später auch naheliegend, selbst ein Pflegekind aufzunehmen – mich.
Die Bochumer Oma war aktives Mitglied der evangelischen Kirche und sehr beliebt in der Gemeinde. Regelmäßig besuchte sie das Grab ihres Mannes, der früh verstorben war. Fast jeden Sonntag ging sie in die Kirche und starb auch dort: Während eines Gottesdienstes blieb ihr Herz stehen.
Die Wiener Oma, die Mutter meiner Adoptivmutter, war auch klein, aber sehr rundlich. Sie verströmte etwas Mütterliches, Beruhigendes. Stets war sie hübsch zurechtgemacht und trug gern Seidenkleider und Mäntel mit Pelzkragen. Ich war als Kind oft bei ihr zu Besuch. Wien mochte ich lieber als Bochum, die Stadt war spannender. Meine Wiener Großmutter benahm sich manchmal selbst wie ein kleines Kind: Einmal spielten wir dem Wiener Opa einen Streich und taten so, als seien wir alle ausgerissen, wir Kinder und die Oma. Der Opa gab sich darauf sehr erschreckt.
Nur an Weihnachten konnte man mit meiner Wiener Oma wenig anfangen. Standen wir vor dem geschmückten Tannenbaum, traute sie sich nicht zu singen, weil sie die Töne nicht traf.
Oft waren wir auch mit den Wiener Großeltern im Urlaub – im Winter beim Skifahren, im Sommer beim Wandern in den österreichischen Bergen oder zum Zelten in Italien am Meer. Mein Wiener Opa erzählte dann manchmal seine Kriegsgeschichten über die Zeit mit Rommel in Afrika. Die Wiener Oma erzählte nie vom Krieg. Sie war 1945 aus dem heutigen Tschechien nach Wien geflohen. Auf der Flucht hatte sie Schlimmes erlebt, aber sie wollte darüber nicht sprechen.
Und dann gibt es noch meine Großmutter in Nigeria, meine zweite leibliche Großmutter neben Irene. Über sie weiß ich nicht viel. Einmal, mit achtundzwanzig Jahren, traf ich meinen Vater. Er erzählte mir, als meine Mutter mich ins Kinderheim geben wollte, habe er vorgeschlagen, ich könne ebenso im Haushalt meiner Großmutter in Nigeria aufwachsen. Er hätte diese Lösung dem Heim vorgezogen. Meiner Mutter gefiel die Idee nicht. Ich denke, sie wollte mich damals noch nicht endgültig aufgeben. Im Heim konnte mich meine Mutter besuchen, außerdem gab es die Option, mich wieder zu sich zu nehmen.
Ich stelle mir meine afrikanische Großmutter hochgewachsen vor, stolz, eine strenge Matriarchin. Ich finde es beachtlich von ihr, dass sie bereit gewesen wäre, mich bei sich aufzunehmen. Ich bin ihr dafür dankbar und frage mich manchmal: Was wäre gewesen, wenn …?
Verglichen habe ich meine Großmütter nie, weder in meiner Kindheit noch später. Dazu waren sie viel zu unterschiedlich. Ich hatte eigenständige Beziehungen zu meinen Großmüttern, jede war wichtig auf ihre Art.
Irene nahm jedoch einen besonderen Platz ein. Sie war eine der ersten Bezugspersonen in meinem Leben.
Als meine Adoption mit sieben Jahren amtlich war, brachen meine Adoptiveltern den Kontakt zu meiner Mutter ab; sie dachten, das sei besser für mich. Damit verschwand auch meine Großmutter aus meinem Leben. Sie hinterließ eine Lücke, sie fehlte mir.
Das letzte Mal hörte ich von ihr, als ich dreizehn war: Damals erzählten mir meine Adoptiveltern, meine Großmutter sei gestorben. Sie hatten die Todesanzeige in der Zeitung gesehen. Dass meine Großmutter sich umgebracht hatte, stand darin nicht.
Ich fragte nicht weiter nach. Meine leibliche Familie war in meiner Adoptivfamilie ein Thema, über das nicht gesprochen wurde. Da war ein tiefdunkles Schweigen – ein stilles Abkommen zwischen meinen Adoptiveltern und mir, nicht mehr über meine Mutter und meine Großmutter zu reden. Aber meine Adoptiveltern hätten mir ohnehin kaum etwas über die beiden sagen können, sie wussten ja nichts.
Ich weiß noch, dass ich traurig war, als ich vom Tod meiner Großmutter erfuhr: Ich hatte immer gehofft, sie irgendwann wiederzusehen. Aber der Tod nahm sie mir endgültig.
Bis ich das Buch in der Hamburger Bibliothek fand, hatte ich nur meine Erinnerungen: Meine Großmutter hatte mich gerne um sich. Bei meiner Mutter fühlte ich mich oft nicht willkommen. Meine Mutter zog mich am Arm, wenn sie ungeduldig war, das tat Irene nie.
Ich erinnere mich nur an eine Situation mit meiner Großmutter, die mich irritierte: Ich war wegen irgendetwas traurig, doch sie hatte dafür kein Verständnis und untersagte mir das Weinen.
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