Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
erzählte auch, Göth habe sie einmal, als er völlig betrunken war, massiv sexuell belästigt. Ruth Irene Kalder habe ihre Hilferufe gehört und sei herbeigeeilt. Daraufhin habe Göth von ihr abgelassen.
Es sind eine Reihe Zeitzeugen, die sich erinnern, dass Ruth Irene Kalder versucht habe, mäßigend auf Göth einzuwirken. Sie soll sich für einzelne Gefangene eingesetzt und Folterungen und auch Erschießungen einzelner Häftlinge verhindert haben. In ihrer Anwesenheit habe sich Göth eher beherrscht und sei meist milde gestimmt gewesen. Zum Beispiel soll sie nach Aussagen von Zeitzeugen einmal Amon Göth vom Appellplatz weggeholt haben, als er dort gerade Häftlinge auspeitschen ließ. Ruth Irene Kalder selbst wird allerdings später sagen, sie habe das Lager nie betreten.
Laut Emilie Schindler berichtete ihr Mann Oskar Schindler Mitte 1944 , Göth habe allmählich genug von seiner Freundin, die Frau sei «zu friedliebend» und versuche «dauernd, ihn von seinen sadistischen Exzessen abzubringen».
Dass Ruth Irene Kalder ab und an halbherzig versuchte, Opfern zu helfen, zeigt: Sie wusste, wie Amon Göth Menschen behandelte und welche Verbrechen im Lager geschahen.
Göths Schreiber Mietek Pemper berichtet in seiner Autobiographie, dass Ruth Irene Kalder ab und an besonders vertrauliche Schriftstücke für Göth tippte. Pemper vermutet, dass sie auch an einer Liste mit Namen von Häftlingen, die hingerichtet werden sollten, mitwirkte.
Ruth Irene Kalder hat später meist zwei Dinge betont: dass Płaszów nur ein Arbeitslager gewesen sei, kein Vernichtungslager. Und dass es dort nur Erwachsene gegeben habe, keine Kinder.
Ihrer Tochter Monika berichtete sie allerdings, dass sie einmal gesehen habe, wie man Kinder auf einem Lastwagen aus dem Lager brachte. Monika Göth sagte, dass ihre Mutter immer wieder an diese Kinder gedacht habe und ihre Erinnerungen an diese Szene wohl auch niederschrieb.
Gemeint hat Ruth Irene Kalder wohl Lastwagen, die 1944 Kinder aus Płaszów nach Auschwitz fuhren. Göth wollte für neu eintreffende ungarische Juden Platz in seinem Lager schaffen. Deshalb müsse er, so schrieb er an einen SS -Führer, das Lager von alten, kranken und schwachen Personen sowie Kindern «säubern» und «unproduktive Elemente liquidieren», also die Schwachen und die Kranken aus Płaszów zur «Sonderbehandlung» in die Gaskammern des nahen Auschwitz schicken.
Am Appellplatz wurden Zettel aufgehängt, auf denen zu lesen stand: «Jedem Häftling ein angemessener Arbeitsplatz». Aus Lautsprechern erklangen muntere Weisen. Die Häftlinge mussten sich auf dem Appellplatz nackt ausziehen und an den Lagerärzten vorbeilaufen. Nach der Aussage eines Zeitzeugen war Josef Mengele, der berüchtigte Auschwitz-Arzt, eigens angereist und notierte sich die Namen der Kinder. Am 14 . Mai 1944 wurde das Ergebnis der sogenannten «Gesundheitsaktion» verkündet. Diejenigen, die nach Auschwitz sollten, mussten sich auf einer Seite des Platzes versammeln: Insgesamt etwa 1200 Menschen, darunter rund 250 Kinder.
Die Płaszów-Überlebende Stella Müller-Madej beschreibt die Szene, als die Kinder auf Lastwagen getrieben wurden: «Der ganze Platz gerät in Bewegung. Väter und Mütter schluchzen. Aus den Kehlen der Kinder, die bislang still wie Puppen und starr vor Entsetzen dastanden, dringen flehentliche Schreie … Sie schreien um Hilfe … Ein ganz kleines Kind versucht auf allen vieren zu fliehen. Eine Aufseherin … packt … es bei den Händchen und wirft den kleinen Körper wie einen Sack auf die Ladefläche. Es ist nicht zu ertragen. Der ganze Appellplatz heult, die Peitschen sausen nieder, die Hunde bellen … In diesem Moment erklingt aus dem Lautsprecher Walzermusik … Gleichzeitig fahren die Lastwagen zum Lagertor.»
Die Kinder wurden kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz umgebracht.
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So wie meine Großmutter zeitlebens Amon Göth verklärt und entschuldigt hat, so habe ich zu Beginn meiner Nachforschungen dazu geneigt, sie zu milde zu betrachten. Ich sagte mir: Sie hat niemandem etwas Böses getan. Sie war nicht aktiv an seinen Taten beteiligt.
Ich wusste so wenig über meine Großmutter. Meine Mutter hatte ich mit Anfang zwanzig noch einmal kurz getroffen, meine Großmutter war damals schon tot. Ich habe sie, als ich das Buch über meine Mutter las, sehr genau angeschaut – zuerst nur die privaten Fotos aus der Nachkriegszeit, später auch die historischen Fotos.
In manchen Momenten sehe ich
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