Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Söhne für drei Tage in die Berge zum Skifahren mitzunehmen. Ich bleibe so lange in ihrem Haus in Waldtrudering und bereite mich in Ruhe auf das Treffen mit meiner Mutter vor.
Von Waldtrudering in den Münchner Vorort Putzbrunn sind es nur wenige Kilometer. Dort liegt das Salberghaus – das Heim, in dem ich meine ersten drei Lebensjahre verbracht habe. Ich bin schon einige Male hier vorbeigefahren. Ich habe angehalten, die Autoscheibe heruntergelassen und das Gebäude betrachtet, einen dreistöckigen, roten Flachbau. Dahinter liegt der Wald. Vor dem roten Kasten befindet sich ein großer Garten mit Spielgeräten: ein begehbares Schiff aus Holz, eine Hängebrücke, eine Wasserpumpe. Kleine Kinder schaukeln und singen. Gab es die Spielgeräte damals schon? Sicher nicht, alles sieht sehr neu aus. Bisher habe ich das Gebäude immer nur von außen angesehen, jetzt gehe ich hinein.
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Das Salberghaus, ein Säuglingsheim nahe München, wurde in den sechziger Jahren erbaut. Bis 1987 leiteten es Franziskusschwestern, die im Haus gegenüber wohnten. Im Vergleich zu anderen Heimen hatte das Salberghaus einen guten Ruf. Bei einer Heimbesichtigung durch die Regierung von Oberbayern war der Schwester Oberin bescheinigt worden, dass das Heim «gut geführt» werde. Weiter hieß es im Bericht der Regierung: «… die Säuglinge befanden sich in gutem Pflege- und Ernährungszustand; sie hatten durchweg eine frische Gesichtsfarbe … Die heitere Gesamtatmosphäre bietet Gewähr für die gesunde Entwicklung der Säuglinge.»
Heute leben im Salberghaus vor allem Kinder, die dringend eine Bleibe brauchen. Ihre Eltern sind mit der Erziehung überfordert, manche sind psychisch krank, drogen- oder alkoholabhängig oder straffällig geworden. Einige Kinder wurden in ihren Familien geschlagen oder sexuell missbraucht. Die Polizei oder das Jugendamt bringen sie ins Kinderheim.
In den siebziger Jahren brachten die Eltern ihre Kinder in der Regel noch selbst dorthin. Häufig waren es alleinerziehende oder berufstätige Mütter, die im Salberghaus um Hilfe baten.
Es gab damals noch kein Recht auf Elternzeit: Mütter mussten wenige Wochen nach der Geburt wieder im Büro antreten, länger wurde ihnen ihr Arbeitsplatz nicht freigehalten. Viele der Frauen arbeiteten an sechs Tagen die Woche Vollzeit. Teilzeit-Arbeitsplätze und gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten gab es kaum, auch wenig Hilfsangebote für Mütter. Kinder wurden weit häufiger zur Adoption freigegeben als heute.
Auch bei Jennifer Göth steht in den Akten des Salberghauses als Grund für die Aufnahme im Sommer 1970 : «Mutter berufstätig».
Anfang der siebziger Jahre lebten bis zu 200 Säuglinge und Kleinkinder im Heim in Putzbrunn. Sie waren in Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe bestand aus zehn bis zwölf Kindern und wurde von ein oder zwei Ordensfrauen geleitet. Die kleineren Kinder lebten in der «Säuglingsstation», die etwas älteren in der «Krabbelstation».
Heute haben die Kindergruppen Namen wie «Bären», «Grashüpfer» oder «Sieben Zwerge», in den siebziger Jahren wurden sie einfach durchnummeriert. Heute werden die Kinder draußen in Kinderwagen herumgefahren, damals wurden nur die Gitterbettchen auf den Balkon geschoben, damit die Kinder an der frischen Luft waren. Der Sozialpädagoge Wolfgang Pretzer, der das Salberghaus jetzt leitet, sagt: «Auch wenn das Heim nach damaligen Standards sehr gut war: Aus heutiger Sicht war das mehr Versorgung als Betreuung. Damals war weniger Zeit, auf das einzelne Kind einzugehen. Die Gruppen waren größer, es gab weniger Betreuungspersonen als heute.»
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Meine früheste Erinnerung: Ich liege auf dem Boden und schreie. Um mich herum ist alles dunkel. Ich muss aus dem Gitterbett gefallen sein. Eine Nachtschwester kommt herbei und legt mich zurück aufs Laken. In die Decke gekuschelt schlafe ich wieder ein.
Wir schliefen damals in Gitterbetten mit weißen Stäben, die man zum Öffnen und Schließen an einer Seite herunter und hoch schieben konnte. Eine Schwester hatte vergessen, das Gitter meines Bettes wieder zu schließen.
Als ich selbst schwanger wurde und Kinder bekam, musste ich oft an das Heim denken. Neun Monate waren meine Söhne in meinem Bauch, warm und geborgen. Als Babys habe ich sie dann viel getragen, ihnen vorgesungen und sie in den Schlaf gewiegt. Sie waren immer eng mit mir verbunden, im Mutterleib und auch danach.
Bei mir war die Mutter nach der Geburt einfach weg.
Die Fotos, die ich aus der Zeit
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