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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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eine Tochter, sie nannte sie Jennifer. Jennifer erhielt den Familiennamen ihrer Mutter: Göth.
    Monika Göth arbeitete damals an sechs Tagen die Woche als Sekretärin und war immer wieder psychisch krank.
    Als ihre Tochter Jennifer vier Wochen alt war, brachte Monika Göth sie ins «Salberghaus», ein katholisches Säuglingsheim nahe München, das von Nonnen geleitet wurde.
    *
    Drei Wochen sind vergangen, seit ich meiner Mutter den Brief geschrieben habe. Noch immer habe ich nichts von ihr gehört. Ich habe Angst, dass sie sich gar nicht meldet. Vielleicht möchte sie keinen Kontakt mit mir.
    Auch deswegen habe ich so lange gewartet, bis ich ihr geschrieben habe: Ich wollte mich stark genug fühlen, um ihr Schweigen auszuhalten.
    Die Stille fühlt sich vertraut an. Als ich adoptiert wurde, war sie mit einem Mal weg, ich hörte nichts mehr von ihr, konnte ihr keine Fragen mehr stellen. Ich versuche, gelassen zu bleiben. So lange habe ich für meinen Brief gebraucht. Vielleicht braucht sie jetzt auch Zeit.
    Dann, an einem Donnerstag, ein Anruf im Büro. Ich bin nicht da. Man richtet mir aus: Ein Herr Soundso habe um Rückruf gebeten. Es ist Dieter, der zweite Mann meiner Mutter, er ist ungefähr so alt wie sie. Als ich meiner Mutter zum letzten Mal begegnet bin, mit Anfang zwanzig, hatte sie ihn im Schlepptau. Sie hatte ihn einfach mitgebracht, ohne mich zu fragen. Viel lieber wäre ich damals allein mit meiner Mutter gewesen.
    Jetzt hat sich Dieter gemeldet, nicht meine Mutter. Ich frage mich, warum sie nicht selber anruft. Schickt sie ihn vor?
    Am nächsten Tag rufe ich Dieter zurück. Er sagt mir, er habe versucht, mich zu Hause zu erreichen, ich sei aber nicht da gewesen. Wir unterhalten uns kurz, dann sagt er ganz direkt in seiner bayerischen Mundart zu mir: «Warum rufst du deine Mutter nicht einfach an?»
    Einfach? Für mich ist nichts einfach, wenn es um meine Mutter geht.
    Dennoch habe ich längst beschlossen, sie anzurufen. Ich brauche endlich Klarheit und will nicht länger warten. Am Samstag sind mein Mann und die Kinder aus dem Haus, ich habe Ruhe. Ich wähle die Vorwahl, dann ihre Rufnummer, es sind nur ein paar Zahlen, sie wohnt auf dem Dorf.
    Ich bin aufgeregt. Einmal, zweimal, dreimal lasse ich es klingeln, dann ist sie dran. Sie begrüßt mich und sagt, dass sie sich sehr über meinen Brief gefreut habe. Es klingt, als hätte sie meinen Anruf erwartet.
    Ihre Stimme ist mir sofort vertraut. Automatisch denke ich an die Kindertage, an die Wochenenden, an denen ich sie besucht habe.
    Ich höre ihr gern zu, ich mag, wie sie spricht. Sie betont die Worte genau und macht längere Pausen. In der Öffentlichkeit wirkt das manchmal theatralisch.
    Heute kann ich die Freude aus ihrer Stimme heraushören. Aber sie klingt auch aufgeregt. Ich frage mich, wo sie gerade ist. Ich weiß, dass sie jetzt in einem Einfamilienhaus lebt. Im Film über ihre Begegnung mit Helen Rosenzweig wurden einige Szenen bei ihr zu Hause gedreht.
    Steht sie im Wohnzimmer oder im Flur? Geht sie gerade mit dem Telefon durchs Haus? Oder ist sie schon nach draußen geflüchtet, an die frische Luft? Dass sie irgendwo auf einem Stuhl sitzt, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu ist sie zu impulsiv, bestimmt will sie herumlaufen. Sie war schon immer ein unruhiger Mensch.
    Als Kind hat sie mich nervös gemacht. In ihrer Gegenwart lag eine Anspannung in der Luft. Nie wusste ich, was ich als Nächstes von ihr zu erwarten hatte. Das machte mir Angst. Sie sprach nicht viel, im Gegenteil: Wenn sie mich bestrafen wollte, schwieg sie.
    Jetzt, am Telefon, redet sie drauflos. Meine Mutter wundert sich gar nicht, dass ich plötzlich die ganze Familiengeschichte kenne. Sie geht einfach davon aus, dass ich über vieles Bescheid weiß, und erzählt ganz selbstverständlich, springt von einem Detail in ihrem Leben zum nächsten. Am Ende frage ich sie vorsichtig: «Soll ich dich besuchen, wäre dir das recht?» Ohne zu zögern, sagt sie: «Natürlich.» Als ich sie frage, wann es ihr denn passen würde, antwortet sie: «Wenn du kommst, immer.»
    Als ich den Hörer auflege, bin ich erleichtert. Dafür, dass ich mich so lange auf den ersten Kontakt mit meiner Mutter vorbereitet habe, ist das Gespräch gut verlaufen. Sie klang erfreut und nicht ablehnend – das ist mehr, als ich erwartet hatte.
    Wir haben uns für den Februar verabredet, ich werde sie in ihrem Heimatort in Bayern besuchen. Vorher fahre ich nach München. Meine Adoptiveltern haben angeboten, meine

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