Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Besonderes: Seine Mutter, die für Jennifer später die «Bochumer Oma» sein wird, und auch seine Schwester hatten immer wieder Pflegekindern ein Zuhause gegeben. Für Gerhard Sieber war es eine schöne Familientradition: eine Zeitlang einem Kind in Not zu helfen.
Inge Sieber erzählt mit immer noch leicht hörbarem, weichem Wiener Einschlag: «Ich war unsicherer als mein Mann. Ich hatte Angst davor, dass wir ein psychisch schwer angeschlagenes Kind bekämen und ich dieser Aufgabe nicht gewachsen sein würde.»
Trotz ihrer Bedenken ging Inge Sieber 1973 mit ihren beiden kleinen Söhnen zum Jugendamt und bewarb sich um ein Pflegekind. An eine Adoption dachten die Siebers zu diesem Zeitpunkt nicht, sie wollten nur möglichst lange einem Kind beistehen: «Eine Adoption war in unseren Augen nur etwas für Menschen, die selber keine Kinder bekommen konnten. Und wir hatten ja zwei Söhne und wollten nicht Kinderlosen, die sich eine Adoption wünschten, ein Kind wegnehmen», so Inge Sieber.
Weiter erzählt sie: «Meine beiden kleinen Söhne tobten dann im Jugendamt so wild herum, dass ich sicher war: Hier vermitteln sie mir bestimmt kein Pflegekind, sondern denken: Diese Mutter bekommt ihre eigenen Kinder ja nicht in den Griff.»
Doch das Jugendamt hielt die Siebers für geeignet. Eine Sozialarbeiterin besuchte die Familie zu Hause, außerdem musste Inge Sieber zu einer Gesundheitsprüfung. Damals wurde vor allem die zukünftige Mutter des Pflegekindes überprüft, es wurde vorausgesetzt, dass sich nur die Frau ums Kind kümmerte. Bei den Siebers war das auch so: Inge Sieber war Hausfrau, kümmerte sich um die Kinder, engagierte sich nebenbei in der Nachbarschaftshilfe, betreute ältere Menschen und gab Schülern Nachhilfe in Latein.
Nach drei Monaten rief das Jugendamt bei Familie Sieber an: «In einem Heim in Putzbrunn gibt es ein Mischlingsmädchen, das dringend einen Pflegeplatz braucht.»
Heute wäre das undenkbar – aber damals wurden die Siebers ohne jegliche pädagogische Beratung oder Begleitung an das Salberghaus vermittelt. Adoptionen und Pflegschaften wurden oft im Hauruck-Verfahren geregelt. In der Chronik des Salberghauses heißt es über die Praxis zu Beginn der siebziger Jahre: «Oft standen zukünftige Adoptions- und Pflegeeltern ohne Voranmeldung vor der Tür, mit einem Schreiben vom Jugendamt, auf dem sinngemäß stand, daß sie berechtigt seien, ein bestimmtes Kind anzuschauen und gleich mitzunehmen. Die Erkenntnis, daß eine Anbahnungszeit zum gegenseitigen Kennenlernen zum Wohle aller notwendig ist, konnte nur mühsam durchgesetzt werden.»
Die Siebers besprachen die Sache mit dem Pflegekind mit ihren kleinen Söhnen. Matthias, der ältere der beiden, erinnert sich: «Sie sagten zu uns: Da ist so ein Mädchen, das schauen wir uns mal an.»
Als die Familie Sieber Jennifer das erste Mal im Kinderheim besuchte, hatten die beiden Jungen ein Bilderbuch für sie dabei: «Willi Waschbär tut das auch», dazu einen blauen Teddy. Inge Sieber sagt: «Wir sahen ein fröhliches Mädchen mit wild abstehenden Haaren – direkt am Kopf wuchsen Naturlöckchen, die äußeren Haare hatte ihre Mutter entkrausen lassen, sie standen wie Stacheln vom Kopf ab. Jenny wurde uns quasi gezeigt – wie eine Ware.»
Ein anderes Mädchen aus dem Heim setzte sich sofort auf Inge Siebers Schoß, schaute sie an und sagte: «Mama, du bist lieb.» Inge Sieber weiß noch, wie bedrückend sie es fand, dass für dieses Heimkind alle Besucherinnen Mamas waren.
Die Familie Sieber ging mit Jennifer spazieren. Danach besuchten sie das Mädchen noch mehrmals im Heim. Schließlich kam Jennifer einen Tag «auf Probe» zur Familie nach Waldtrudering. Inge Sieber servierte zum Mittagessen Hähnchen. Sie erzählt: «Jenny war wohl eher weiche Kinderkost gewöhnt, sie wunderte sich über die Knochen, stocherte im Essen herum, kaute und kaute. Ich fragte: Magst du das nicht? Und da sagte Jenny: Nein! Katze ess ich nicht!»
Den Mittagsschlaf hielt Jennifer im Bett von Matthias, der ihretwegen ins Gästebett umzog. Das Mädchen war freundlich und offen, es schien sich bei den Siebers wohl zu fühlen. Am Ende dieses Tages, bevor sie Jennifer ins Heim zurückbrachten, fragten sie die Dreijährige: «Möchtest du bei uns einziehen?» Jennifer sagte ja.
Inge Sieber zog mit ihren beiden Söhnen los, kaufte einen neuen Milchbecher und fragte die Jungen: «Für wen ist der wohl?» – «Für das kleine Mädchen, das bald unsere neue Schwester
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