Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Magdalena. Ich schreibe ihr und erhalte sofort eine Antwort, sie beginnt mit den Worten: «Sehr geehrte Frau Teege oder – liebe Jenny?»
Schwester Magdalena erinnert sich noch gut an mich. Sie habe noch viele Fotos von mir, schreibt sie. Ich solle sie doch gerne besuchen, sie wohne mit ihrem Mann nicht weit von München.
Das Einfamilienhaus in einem bürgerlichen Viertel finde ich sofort. Schwester Magdalenas Haare sind jetzt weiß, sie hat kurze Löckchen. Zur Begrüßung umarmt sie mich.
Über ihrer Küchentür hängt ein schlichtes Kreuz, es fällt mir gleich auf. Gott spiele immer noch eine wichtige Rolle in ihrem Leben, erklärt sie mir, die Kirche dagegen kaum. Sie hat nach ihrer Zeit im Orden geheiratet, Kinder bekommen, mittlerweile hat sie mehrere Enkelkinder. Ihr Mann sitzt auch mit am Esstisch. Er ist ehemaliger Priester, spricht mehrere Sprachen und kommt aus der Nähe von Krakau. Płaszów kennt er und auch den Namen Amon Göth. Ich erzähle von meiner neu entdeckten Familiengeschichte. Die beiden hören aufmerksam zu.
An meine Mutter kann sich Schwester Magdalena nicht mehr erinnern, auch nicht an meine Großmutter. Aber sie weiß, dass ich traurig war, wenn ich an den Wochenenden nicht abgeholt wurde. Bei einigen Kindern seien die Eltern öfter gekommen. Ich hätte eine kleine Freundin in der Gruppe gehabt, deren Eltern sie jeden Sonntag besuchten, ich hätte das sehr genau wahrgenommen. Meine Mutter sei anfangs regelmäßig gekommen, später dann nur noch sporadisch.
Damals war meine Gruppenleiterin Ende zwanzig, heute ist sie Ende sechzig, aber sie weiß noch viele Details. Sie sagt, ich sei ein fröhliches, offenes, unkompliziertes Kind gewesen, sehr beliebt in der Gruppe. Zu jedem ihrer Schützlinge habe sie eine persönliche Verbindung, zu einigen habe sie bis heute Kontakt. Fast keines der ehemaligen Heimkinder habe einen geradlinigen Lebenslauf, viele hätten immer wieder mit Problemen zu kämpfen, erzählt sie mir.
Sie zeigt mir Fotoalben: Schwester Magdalena mit uns im Tierpark Hellabrunn und im Heim beim Besuch des Nikolaus. In meiner Gruppe gab es noch ein anderes dunkelhäutiges Kind, außerdem mehrere körperlich gezeichnete Kinder, eines war auf einem Auge blind, einem anderen fehlte ein Bein.
Meine ehemalige Gruppenleiterin sagt, sie sei für die «Extra-Portion Liebe» zuständig gewesen. Es sei ihr jedes Mal ungeheuer schwergefallen, die Kinder wieder abzugeben, wenn sie das Heim verlassen mussten.
Das Wiedersehen mit Schwester Magdalena ist sehr nett und herzlich. Wir reden und reden, ich möchte gar nicht aufstehen und gehen.
Auf dem Weg zurück nach Waldtrudering überlege ich, wie es wohl war, plötzlich von Schwester Magdalena getrennt zu sein. Im Heim war sie meine wichtigste Bezugsperson. Von einem Tag auf den anderen kam ich in eine Pflegefamilie, meine spätere Adoptivfamilie. Schwester Magdalena sah ich danach nie wieder. Habe ich sie vermisst? Meine Adoptiveltern sagen, ich hätte anfangs immer wieder von ihr gesprochen.
*
Mit drei, spätestens vier Jahren verließen die Kinder das Salberghaus. Bis dahin sollten sie zu ihren leiblichen Familien zurückgekehrt sein oder eine Pflegefamilie gefunden haben, sonst wurde ein anderes Heim für sie gesucht.
An den Wochenenden kamen immer wieder Paare ins Salberghaus, um sich Kinder anzusehen. Kleine süße Babys waren am leichtesten «vermittelbar». Jennifer war über drei, ihre Haut war dunkel. «Schwarze Kinder hatten es damals schwerer; aufs Land haben wir die gar nicht vermittelt, da hätten wir ihnen keinen Gefallen getan», erinnert sich eine ehemalige Mitarbeiterin des Kinderheims.
Jennifer wurde zuerst einer Familie vorgestellt, die schon eine kleine Tochter hatte und sich überlegte, ein gleichaltriges Pflegekind aufzunehmen – aber als sie die hochgewachsene Jennifer sahen, die ihre Altersgenossen einen guten Kopf überragte, entschieden sie sich gegen sie: Jennifer war ihnen zu groß.
Zur selben Zeit meldete sich ein Akademiker-Ehepaar aus München-Waldtrudering beim Jugendamt: Inge und Gerhard Sieber. Sie ist Wienerin und hat in Pädagogik promoviert, er ist Wirtschaftswissenschaftler und kommt aus Bochum. Die beiden hatten in kurzem Abstand zwei Söhne bekommen, die nun drei und vier Jahre alt waren. Es waren schwierige Geburten, beide Kinder kamen zu früh.
Weil das Paar aber immer drei Kinder wollte, schlug Gerhard Sieber seiner Frau vor, doch ein Pflegekind aufzunehmen. Für ihn war das nichts
Weitere Kostenlose Bücher