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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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hin. Inge Sieber sollte mehrere Empfehlungsschreiben vorweisen: Freunde und Bekannte bescheinigten ihr, dass sie ihr eine Adoption zutrauten.
    Für Jennifer und andere Kinder in ihrem Alter war die Adoption etwas Kompliziertes und Abstraktes. Ein befreundeter gleichaltriger Junge sagte zu Jennifer: «Du bist ja jetzt apportiert, nee, abonniert.» Und als Inge Sieber einmal Jennifer erklärte, dass sie sie gar nicht hätte zur Welt bringen können, weil ihr Adoptivbruder Manuel doch nur ein halbes Jahr älter sei, reagierte Jennifer mit Kinderlogik: «Dann ist es gut, dass ich adoptiert bin, denn sonst wäre ich ja gar nicht geboren.»
    Monika Göth schickte ihrer Tochter noch fast drei Jahre lang Briefe und Geschenke, die die Adoptiveltern aber nur zum Teil an Jennifer weitergaben. Als Monika Göth nichts von Jennifer hörte, schrieb sie der Adoptivfamilie einen Brief: Ob es denn in Ordnung sei, dass sie sich ab und an melde? Ob sie ihrer Tochter weiterhin Briefe und Geschenke schicken dürfe?
    Inge und Gerhard Sieber schrieben zurück: Nein, sie solle sich doch bitte erst einmal nicht mehr melden: Jennifer sei zu sehr hin- und hergerissen zwischen leiblicher und neuer Familie, man müsse abwarten, bis sie größer sei.
    Danach meldete sich Monika Göth nicht mehr.
    Inge Sieber sagt, sie und ihr Mann seien überhaupt nicht auf die Idee gekommen, den Kontakt zu Jennifers leiblicher Mutter wie bisher aufrechtzuerhalten: «Wir dachten, ein klarer Schnitt sei das Beste für Jenny. Für uns war mit dem Tag der Adoption klar: Sie ist jetzt unser Kind.»
    *
    Auf dem Papier war ich jetzt eine Sieber. Auf meine Schulhefte in der zweiten Klasse schrieb ich nun einen anderen Nachnamen als noch in der ersten. Aber meine Mutter gehörte weiter zu mir.
    Meine Adoptiveltern dachten, es sei das Beste, wenn sie so tun, als sei ich wirklich ihr eigenes Kind. Als sei ich immer schon da gewesen.
    Aber unsere gemeinsame Geschichte begann erst, als ich drei war. Ich kam als eine Göth zu ihnen, und sie hießen Sieber.
    Nach der Adoption war es dann so, als hätte es meine Mutter nie gegeben.
    Der Kontakt zu ihr brach ganz plötzlich ab. Sie rief nicht mehr an, holte mich nicht mehr ab. Was war mit ihr? Hatte sie mich vergessen?
    Und meine Adoptiveltern schwiegen. Niemand ermunterte mich zum Reden. Im Gegenteil: Inge und Gerhard schienen froh, dass auch ich still blieb.
    Sie wünschten sich so sehr eine normale Familie.
    Ich wagte nicht zu fragen. Durfte ich überhaupt Fragen stellen? Stellte ich nicht damit meine neuen Eltern in Frage? Ich wollte ja zu den Siebers gehören. Ich sagte ja, als sie mich als sechsjähriges Kind fragten, ob ich von ihnen adoptiert werden wollte.
    Ich wünschte mir so sehr eine normale Familie.
    Auf den Fotos meiner Kindheit lache ich fast immer: am Strand in Italien, im Sand eingegraben; beim Skifahren mit den Brüdern; beim Eisessen und auf dem Oktoberfest.
    Trotzdem bilden die schönen Fotos aus meiner Kindheit nicht die ganze Wahrheit ab.
    Von Anfang an war mir klar: Ich war anders. Anders als Inge und Gerhard, anders als meine Brüder und der Rest der Kinder. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte.
    Inge und Gerhard sprachen von mir als «unserer Tochter». Obwohl es gut gemeint war, war mir das oft zu viel. Jeder, der es hörte, stand mit offenem Mund da, starrte mich an, und man merkte, dass er sich fragte: Wie kann das sein? Ich tat so, als würde ich die erstaunten Blicke nicht bemerken.
    Die Fotos meiner Kindheit, die Fotos, die ich so mag: Sie zeigen immer zwei helle Kinder und ein dunkles.
    Jennifer Teege mit ihrem Adoptivbruder Matthias beim Wandern in den Bergen
    Auf der Straße riefen mir Kinder gelegentlich Worte wie «Negerbub» hinterher, wegen meiner Größe und meiner kurzen gelockten Haare hielten sie mich für einen Jungen. Dann verteidigte ich mich schnell: «Ich bin ein Mischlingsmädchen.» Bei Kindergeburtstagen hoffte ich, dass keiner zu mir blickte, wenn die «Negerküsse» verteilt wurden.
    Im Kindergarten war ich das einzige Kind mit dunkler Haut. In der Grundschule traf ich dann Mädchen, die so aussahen wie ich: zwei Schwestern, der Vater schwarz, die Mutter weiß. Genau wie bei mir. Niemand sollte mich mit ihnen in Verbindung bringen. Auf dem Pausenhof spielte ich woanders.
    Später, am Gymnasium, gab es noch zwei dunkelhäutige adoptierte Kinder. Mit ihnen hätte ich mich vielleicht austauschen können. Aber wir sprachen nur über alltägliche Dinge. Zu sehr hatte ich das

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