Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
war der Garten voller Blumen, zwischen zwei Bäumen baumelte eine Hängematte. Nicht weit entfernt lagen ein Fußballplatz und ein kleiner Berg. Im Winter trafen wir uns mit Nachbarskindern und rodelten den Berg mit unseren Schlitten hinab, überschlugen uns kreischend und lagen abends heiser und müde im Bett.
Am Ende der Straße begannen Felder und Wiesen, dahinter lag ein Wald. Dort spielten wir Verstecken, kurvten mit unseren Fahrrädern herum, gründeten eine Bande und bauten Lager im Wald.
Meine Adoptiveltern besuchten mit uns Kindern «Schwammerlkurse», wir lernten, die Pilze im Wald zu bestimmen. Im Urlaub fuhren wir zum Bergsteigen nach Österreich oder zum Camping nach Italien, oft mit Inges Eltern: meiner Wiener Oma und ihrem Mann.
Meine Mutter sah ich nur noch selten. Anfangs holte sie mich noch gelegentlich zu sich oder brachte mich zu meiner Großmutter Irene. An viele Begegnungen erinnere ich mich nur bruchstückhaft, aber eine Szene habe ich bis heute deutlich vor Augen: Meine Mutter hatte mich bei meinen Adoptiveltern in Waldtrudering abgeholt. Wir saßen im Auto und fuhren Richtung Hasenbergl, das Viertel im Münchner Norden, in dem meine Mutter wohnte. Auf der Fahrt sprachen wir nicht viel, ich blickte die meiste Zeit aus dem Fenster. Irgendwann tauchten die ersten Wohnblöcke auf, gleichförmige graue Häuserzeilen, dazwischen Grünflächen.
Am Rand der Siedlung stellte meine Mutter ihr Auto ab. Wir stiegen aus, gingen zu ihrem Wohnblock. Sie lief voraus, ich mit der Tasche für das Wochenende hinterher. Meine Mutter schloss die Wohnungstür auf, bellend sprang uns ihr Hund entgegen.
Bevor ich eintreten konnte, warf mir meine Mutter schon die Leine zu, rief: «Geh mit ihm raus!» Ängstlich zog ich mit dem Köter los. Unten versteckte ich mich vor den Kindern, die zwischen den Wäscheleinen spielten. Ich kannte sie kaum, aber sie hatten mir schon einige Male «Negerkind» hinterhergerufen.
Als ich mit dem Hund zurückkam, ließ sich meine Mutter auf das Sofa fallen und steckte sich eine Zigarette an. Noch immer war sie wütend auf mich, weil ich nur widerwillig mit dem Hund rausgegangen war. Ich setzte mich zu ihr: «Hey, Mama, was ist los?» – «Nichts ist los», erwiderte meine Mutter.
*
Bevor die Siebers Jennifer zu sich holten, hatten sie nicht ein einziges Mal mit Monika Göth gesprochen, sie kannten sie nur aus den Akten des Jugendamts.
Monika Göth rief dann in unregelmäßigen Abständen bei der Pflegefamilie an und vereinbarte Termine, an denen sie ihre Tochter zu sich holte oder zur Großmutter Ruth Irene Göth brachte. Die Adoptiveltern wiederum informierten Monika Göth, wenn etwas vorgefallen war, zum Beispiel als Jennifer die Mandeln entfernt wurden. Sie sagten ihr auch vor längeren Familienurlauben Bescheid.
Jennifer hatte nun zwei «Mamas»: ihre Pflegemutter Inge Sieber und ihre leibliche Mutter Monika Göth.
Inge und Gerhard Sieber hatten sich überlegt, wie die Pflegetochter sie nennen sollte. Die Söhne sagten «Mama» und «Papa» zu ihnen, schnell übernahm Jennifer das auch. Inge Sieber sprach von Monika Göth immer als «der anderen Mama»: «Die andere Mama muss arbeiten, deswegen bist du bei uns», sagte sie zu Jennifer.
Jennifers Großmutter Ruth Irene Göth war einmal zu Besuch bei den Siebers, mit ihr verstanden sich die Adoptiveltern bei diesem Treffen gut. Monika Göth dagegen sahen die Siebers immer nur an der Haustür, wenn sie Jennifer abholte. Inge Sieber bat sie nicht hinein. Sie sagt, dass Monika Göth einen kühlen Eindruck auf sie machte und sie keinen Zugang zu ihr gefunden hätte.
Heute ist es Inge Sieber unbegreiflich, warum sie nie mit Monika Göth über Jennifer gesprochen hat.
Denn nach den Wochenenden mit ihrer Mutter sei Jennifer oft sehr unruhig und unausgeglichen gewesen, sagt Inge Sieber. Erzählt habe sie kaum etwas, nur die Großmutter und den Hund der Mutter habe sie erwähnt.
Einmal, so Inge Sieber, habe Monika Göth die damals vierjährige Jennifer nicht selber nach Waldtrudering zurückgebracht, sondern das Mädchen allein in ein Taxi gesetzt.
Als Jennifer sechs Jahre alt war, erwartete Monika Göth eine Tochter von ihrem damaligen Mann Hagen. Monika Göth erklärte sich nun bereit, Jennifer zur Adoption freizugeben – aber nicht in irgendeine Familie, sondern nur zu den Siebers.
Weil Inge Sieber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, sondern Österreicherin war, zog sich das Adoptionsverfahren fast ein Jahr
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