Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
wird», antworteten Matthias und Manuel.
Am 22 . Oktober 1973 holte Inge Sieber Jennifer endgültig aus dem Heim. Sie erhielt Jennifers Impfpass und eine Liste mit ihren Kinderkrankheiten, Schwester Magdalena überreichte ihr viele Fotos.
Ein Kuscheltier hatte Jennifer nicht dabei, als sie nach über drei Jahren das Heim verließ. Inge Sieber sagt: «Als Erstes machte ich mit Jenny einen kurzen Spaziergang, und wir gingen zum Metzger. Der reichte ihr ein Würschtl über die Theke. Sie lachte ihn an.»
Inge Sieber war überrascht, wie «fröhlich und weit entwickelt» Jennifer war. Sie hatte sich auf ein verschüchtertes, traumatisiertes Heimkind eingestellt. «Aber Jenny war selbstbewusster und selbständiger als meine Söhne. Sie wusste sich im Alltag zu bewegen. Die Heim-Erzieherinnen hatten sie gut vorbereitet, waren mit den Kindern zum Beispiel auch im Ort einkaufen gegangen.»
Auffällig war allerdings, dass Jennifer anfangs nicht von Inge Siebers Seite wich: Sie folgte ihrer Pflegemutter auf Schritt und Tritt, sogar auf die Toilette.
Jennifer war wissbegierig und neugierig, so Inge Sieber. Als sie die Spielsachen von Matthias und Manuel sah, fragte sie: «Wem gehört das?» Inge Sieber antwortete: «Euch allen dreien.»
Matthias, Jennifers älterer Adoptivbruder, sagt, sein Bruder und er hätten sich über die neue Spielkameradin gefreut und sich auf Anhieb mit ihr verstanden. Eifersucht auf die neue Schwester hätte es nie gegeben.
Gerhard Sieber baute ein Dreierstockbett für die Kinder. Jennifer schlief unten, der fast gleichaltrige Manuel in der Mitte, der ein Jahr ältere Matthias oben. Auf einem Foto aus dieser ersten gemeinsamen Zeit sitzen alle drei Kinder lachend auf dem Stockbett, die beiden blonden kleinen Sieber-Jungen in rot-blau gestreiften Schlafanzügen, die schmale großgewachsene Jennifer in einem Nachthemd aus demselben Stoff.
Immer am 22 . Oktober, am Jahrestag von Jennifers Einzug in Waldtrudering, überreichte die Familie ihr ein kleines Geschenk. «Der 22 . Oktober war für uns so etwas wie Jennys Namenstag», sagt Inge Sieber.
*
Das Foto von uns dreien auf dem Stockbett, in den Schlafsachen mit identischem Muster – ich mag es sehr.
Nachdem Inge und Gerhard uns zu Bett gebracht hatten, ließen wir immer noch unsere Tiere und Puppen miteinander sprechen: Manuel brummte als Teddybär «Grauli», Matthias mischte sich mit seinem Teddybär «Frechi» ein, und mein dunkelhäutiger Puppenjunge «Jimmy» meldete sich auch zu Wort. Wenn wir müde waren, riefen wir: «Gu-te Nacht! Für al-le!» Wir wechselten uns mit den Silben ab. Danach durfte keiner mehr sprechen.
Auf einem anderen Foto tragen wir alle drei Lederhosen und Bergstiefel, stolz stehen wir an einem Gipfelkreuz in den österreichischen Alpen.
Meine Brüder und ich waren schnell eine Einheit. Die beiden waren mir sofort nah, und sie sind es bis heute.
Nachdem ich die ersten Wochen nach meinem Einzug in Waldtrudering bei Inge zu Hause geblieben war, wollte ich bald mit meinen neuen Brüdern in den Kindergarten gehen. Ich kam in dieselbe Gruppe wie Manuel. Morgens trabten wir drei gemeinsam los, sammelten auf dem Weg unsere Freunde ein. Obwohl wir so klein waren, gingen wir die Strecke häufig allein. Auf dem Rückweg hatten wir immer eine kleine Mutprobe zu bestehen: Wer von uns traute sich, ganz nah am Zaun vorbeizulaufen, hinter dem uns ein großer Hund anbellte, den wir nur «Kollege» nannten? Oft schickten mich meine Brüder vor, ich war die Mutigste von uns dreien.
Waldtrudering ist ein ruhiger, gutbürgerlicher Vorort von München. Eine reine Wohngegend, es gibt hier fast nur Einfamilienhäuser, die von großen Gärten umgeben sind. Die Straßen sind nach deutschen Kolonien oder nach Vögeln benannt: «Togostraße», «Kameruner Straße», «Birkhahnweg», «Am Vogelsang». Es gab kaum Läden oder Geschäfte. Als irgendwann ein «McDonald’s»-Schnellrestaurant an der Ausfallstraße eröffnet wurde, die Waldtrudering mit der Münchner Innenstadt verbindet, war das schon eine Attraktion.
Die ersten Jahre wohnten wir in einer Erdgeschosswohnung mit Garten, dann zogen wir in ein freistehendes Haus. Die Zimmer waren klein und verwinkelt. Das Treppenhaus wurde nicht geheizt. Öffnete man eine Tür, zog es eiskalt aus dem Flur.
Im neuen Haus hatten meine Brüder und ich ein eigenes Spielzimmer, in dem wir matschen und kneten durften. Die meiste Zeit aber waren wir draußen und spielten in der Natur. Im Sommer
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