Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
einer Konditorei zwei Marzipanschweinchen in meiner Hosentasche verschwinden. Eine Verkäuferin sah das und schnauzte mich vor versammelter Kundschaft an, was mir einfiele. Ich musste die Süßigkeiten zurücklegen, meine Adoptiveltern erfuhren nichts.
Ein paar Monate später steckte ich in einem Supermarkt eine Packung Schokoladentäfelchen in meine Tasche. Ich war schon hinter der Kasse, lief zum Ausgang – und direkt in die Arme eines großen Mannes. Es war der Ladendetektiv. Er lotste mich in einen Seitenraum, ich musste meine Tasche ausleeren, dabei kam auch die Schokolade zum Vorschein. Der Detektiv rief zuerst meine Adoptiveltern an, dann informierte er die Polizei. Ich sah mich schon in Handschellen in einer Zelle sitzen. Nach einer Weile kam Inge. Mit betroffener Miene sprach sie mit den Polizisten, entschuldigte sich beim Ladendetektiv. Schweigend fuhren Inge und ich nach Hause. Als Gerhard aus dem Büro kam, zitierten mich die beiden ins Wohnzimmer und hielten mir eine Standpauke. Hoch und heilig musste ich ihnen versprechen, dass ich nie mehr stehle.
Zu Bett ging ich voller Sorge, dass Inge und Gerhard mich zurück ins Heim schicken würden. Wie alle Kinder, die weggegeben worden sind, trage ich ein Trauma in mir: das Gefühl der Wertlosigkeit. Meine eigenen Eltern fanden mich nicht liebenswert genug, um mich zu behalten.
Meine Adoptiveltern gaben sich viel Mühe, sie wollten perfekte Eltern sein. Aber die Angst, wieder allein gelassen zu werden, konnten sie mir nicht nehmen. Ich glaubte, mir die Liebe meiner neuen Eltern immer wieder verdienen zu müssen. Mir fehlte so etwas wie Grundvertrauen.
Einmal träumte ich, dass meine Brüder und ich uns einen Pfirsich teilten: Für meine Brüder je die Hälfte vom Fruchtfleisch, für mich blieb nur noch der Kern.
Das war mein Grundgefühl: Ich konnte nicht erreichen, was meine Brüder haben.
Meine Adoptiveltern waren sehr leistungsorientiert. Früh vermittelten sie uns, dass Fleiß und gute Noten wichtig waren. Matthias machte in der vierten Klasse einen Intelligenztest. Sein Ergebnis war hervorragend, Inge und Gerhard waren stolz.
Manuel war in meiner Klasse, auch er gehörte zu den besten Schülern und schrieb nur Einser.
Meine Leistungen waren eher mittelmäßig. Viele Jahre zweifelte ich an meiner Intelligenz.
Ich muss etwa zehn, elf Jahre alt gewesen sein, als ich im Schrank meiner Adoptiveltern in ihrem Schlafzimmer herumkramte. Sie waren gerade nicht zu Hause, und ich hoffte, dass sie im Schrank die Weihnachtsgeschenke aufbewahrten.
Ich fand eine Karte und ein Goldkettchen mit einem Anhänger. Die Karte war unterschrieben mit «Viele Grüße von Monika und der kleinen Charlotte». Die kleine Charlotte – das musste meine jüngere Halbschwester sein, die meine Mutter bekommen hatte, nachdem sie mich zur Adoption freigab.
Ich stellte meine Adoptiveltern nicht zur Rede. Zu sehr schämte ich mich, dass ich in ihrem Schrank gewühlt hatte.
Aber wenigstens wusste ich jetzt, dass meine Mutter noch an mich dachte.
Mit zwölf oder dreizehn Jahren, während eines Streits mit meinen Adoptiveltern, forderte ich den Kontakt zu meiner Mutter ein: Wütend sagte ich, dass ich sie endlich wiedersehen wolle. Meine Adoptiveltern erklärten mir, dass ich warten solle, bis ich sechzehn sei: Dann hätte ich vom Gesetz her das Recht, die Adresse meiner Mutter zu erfahren und sie zu kontaktieren.
*
In den siebziger Jahren war es üblich, dass die Adoptiveltern die Verbindung zu den leiblichen Eltern kappten.
Erst nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass es für die Entwicklung der Kinder besser ist, ganz offen mit ihrer Geschichte umzugehen. Jedes Kind hat ein Recht auf Herkunft, so steht es auch in der UN -Kinderrechtskonvention.
Heute wird empfohlen, Kindern schon früh die Hintergründe ihrer Adoption zu erklären und beispielsweise in einem Album Fotos der leiblichen Eltern aufzubewahren. Die Adoptiveltern sollten versuchen, möglichst viel über die Vorgeschichte des Kindes zu erfahren. Sie müssen selbst aktiv werden, denn viele Kinder wagen nicht nachzufragen.
Heute verweisen Beratungsstellen in der Regel auch deutlicher auf die problematischen Folgen einer Adoption für das Kind. Studien haben gezeigt: Adoptivkinder fühlen sich oftmals ungeliebt, haben starke Selbstzweifel, Lern- und Konzentrationsstörungen, ein großes Geltungsbedürfnis, Bindungs- und Verlassensängste bis hin zu schweren Depressionen. Sie begeben sich häufiger in
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