Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
psychiatrische Behandlung.
Oft prüfen sie ihre Adoptiveltern besonders hart: Lieben sie mich auch noch, wenn ich mich ganz schlimm aufführe? Besonders die Pubertät wird zur Belastungsprobe für die Beziehung zwischen adoptiertem Kind und seinen neuen Eltern.
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Ich habe Gerhard und Inge nie einen Satz entgegengerufen, wie er wohl für Adoptivkinder typisch ist: «Ihr seid ja nicht meine richtigen Eltern, ihr habt mir gar nichts zu sagen!» Darauf wäre ich überhaupt nicht gekommen, denn ich war ihnen ja dankbar. Sie hatten mich aufgenommen, mir ein neues Leben und eine Zukunft geschenkt.
Aber spätestens in der Pubertät wollte ich nicht mehr nur dankbar sein.
Hinter meiner Rebellion gegen Inge und Gerhard stand auch immer die Frage nach meiner Mutter. Die Frage, wer ich wirklich bin.
Am Esstisch meiner Adoptivfamilie hatte jeder seinen Platz. Ich saß links, vor der Fensterbank mit den Blumentöpfen. Nicht nur die Plätze, auch die Rollen waren fest verteilt: Manuel, blond und schmal, war immer der Beste, der Hochintelligente, dabei freundlich und unkompliziert. Dicht gefolgt von Matthias, auch er sehr gut in der Schule, ruhig und klug, aber unberechenbarer als der stets diplomatische Manuel.
Meine Rolle war die des hedonistischen Schafs. Wenn am Esstisch über Politik und Kultur diskutiert wurde, wandte ich mich demonstrativ ab oder gähnte.
Tschernobyl, der Kalte Krieg: Das waren die Themen der achtziger Jahre. Inge und Gerhard interessierten sich sehr für Politik. Inge war Mitglied bei den «Frauen für den Frieden». Zu Demonstrationen gegen die Wiederaufrüstung ging die ganze Familie. Gerhard, vorher SPD -Anhänger, wählte zum ersten Mal grün. Alle sparten mit Feuereifer Energie, trennten sorgfältig ihren Müll. Nur ich weigerte mich, meine Joghurtbecher auszuspülen.
Mein Bruder Matthias wurde im Gymnasium, das auch ich besuchte, zum Schülersprecher gewählt. Er war viel engagierter als ich, verteilte selbstgedruckte Flugblätter, malte Transparente: eine durchgestrichene Pershing-Rakete.
Auch Manuel interessierte sich sehr für Umweltschutz, später studierte er Geoökologie. Die «Atomkraft? Nein danke»-Sticker hatte er an unsere gemeinsame Kinderzimmertür geklebt.
Später bekam jedes von uns Kindern sein eigenes Zimmer. Meins hatte eine Dachschräge mit einem Fenster in den Himmel. Ich hatte meine Matratze direkt unter das Fenster geschoben, damit ich die Wolken beobachten konnte. Ich las viel, verbrachte Stunden mit Büchern, zog mich in meine eigene Welt zurück.
Mein Zimmer diente auch als «Teestube», dort traf ich mich mit meinen Brüdern. Wir hängten dann ein Schild an die Tür, auf das wir « POG » geschrieben hatten – die Abkürzung für: «Problemorientierte Gespräche». Wir redeten über das, was wir mit Inge und Gerhard nicht so gut besprechen konnten: Liebeskummer, Freundschaften, Träume und Ängste.
Wenn ich in dieser Zeit an meine Mutter dachte, erinnerte ich mich nur an ihre guten Seiten, die unangenehmen Dinge verdrängte ich. Abends, wenn ich im Bett lag, versuchte ich, mich zu erinnern, wie sie aussah, dachte an ihr langes dunkles Haar. Ich malte mir aus, sie würde eines Tages vor der Tür stehen, mich in den Arm nehmen und mich streicheln. Sie würde mich mitnehmen, mir schöne teure Sachen kaufen und mir die Dinge erlauben, die ich bei meinen Adoptiveltern nicht durfte: schminken zum Beispiel, mit Barbiepuppen spielen oder Seidenstrümpfe anziehen.
Ich wollte früh raus aus meiner Familie, weg aus Deutschland. Wir waren keine normale Familie, aber außer mir schien das niemand zu bemerken. Mit sechzehn fuhr ich zum ersten Mal allein in die Sommerferien: Interrail mit einer Freundin. Wir reisten mit Zug und Schiff durch halb Europa: Paris, Rom, Formentera.
Meine Jugend war unbeschwerter als meine Kindheit. Ich dachte weniger an meine Mutter, grübelte nicht mehr so viel. Das Motto von Matthias und mir war «Carpe diem», genieße den Tag. Ich hatte viele Freunde und ging fast jeden Abend aus, am liebsten auf Partys. An den Wochenenden arbeitete ich in einer Diskothek, dem «Wolkenkratzer»: Unten am Eingang wurde man von einem Türsteher gemustert. Dann fuhr man mit einem Aufzug in den obersten Stock. Von dort hatte man einen weiten Blick über die Schwabinger Leopoldstraße. In der Mitte befand sich ein Schiebedach, im Sommer tanzten die Gäste unter freiem Himmel. Ich war achtzehn, stand als Bedienung hinter der Bar und fand mich und alle um mich herum
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