Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
sehr cool. Trinken durfte ich während der Arbeitszeit nicht, aber rauchen. Ich rauchte wie ein Schlot.
Dann, ich war zwanzig und hatte mein Abitur gemacht, rief in Waldtrudering ein Mädchen namens Charlotte an. Matthias war am Apparat. Er richtete mir aus: «Irgendeine Charlotte wollte dich sprechen.» Mir fiel die Karte im Schrank meiner Adoptiveltern ein, die Unterschrift meiner Mutter: «Viele Grüße von Monika und der kleinen Charlotte.»
Meine Halbschwester. Das Mädchen, das mich gewissermaßen «ersetzt» hatte: Als meine Mutter mit ihr schwanger war, gab sie mich zur Adoption frei. Sie kam, ich ging. Ich rechnete nach: Vierzehn Jahre alt musste sie jetzt sein.
Ich rief sie zurück. Eine junge, nette Stimme. Charlotte sagte, sie sei demnächst zu Besuch in München, bei ihrem Vater. Hagen – der Mann, der meine Mutter schlug. In meinen Träumen verfolgt er mich noch heute. Charlotte sagte, meine Mutter sei inzwischen von ihm geschieden.
Charlotte und ich verabredeten uns für den nächsten Abend in einem Café. Sie hatte halblange, hellbraune Haare, trug Hose und T-Shirt. Wir redeten lange. Sie erzählte, wie sie aufgewachsen war, und fragte mich: «Ist deine neue Familie nett?»
Sie erzählte mir auch, wie sie mich gefunden hatte: Durch Zufall hatte sie den Mutterpass meiner Mutter entdeckt. Dort war in der Spalte «Kinder» mein Name über ihrem eingetragen. Charlotte lief mit dem Pass zu unserer Mutter, fragte: «Wer ist Jennifer?» Meine Mutter behauptete, ich sei gestorben. Charlotte glaubte ihr nicht und fragte weiter nach. Schließlich gab meine Mutter zu: Ich war nicht tot. Nur adoptiert.
Meine Mutter gab Charlotte meinen neuen Nachnamen, so fand sie mich und meine Brüder im Telefonbuch. Wir hatten einen eigenen Anschluss, weil wir immer so lange telefonierten.
Spontan beschlossen Charlotte und ich, uns am übernächsten Tag noch einmal zu sehen. Wir fuhren nach Starnberg und spazierten um den See. Die Sonne schien, wir verbrachten den ganzen Nachmittag miteinander. Es war eigenartig, plötzlich eine Schwester zu haben, aber irgendwie auch schön. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl: Etwas stimmte nicht mit ihr.
Ein paar Tage nach meinem Treffen mit Charlotte meldete sich meine Mutter bei meinen Adoptiveltern. Sie bat um ein Treffen, am liebsten bei meiner Adoptivfamilie in Waldtrudering. Mir war das zu viel. Nach all den Jahren wollte ich meine Mutter alleine sehen. Ich schlug vor, meine Mutter solle zuerst nur Inge und Gerhard besuchen. Ich würde danach in einem Café in der Innenstadt auf sie warten.
*
Als Monika Göth ihre Tochter Jennifer 1991 wiedertraf, war sie schon länger von ihrem Mann Hagen geschieden. Er hatte sie zuletzt mit einer Pistole bedroht, sie rief daraufhin die Polizei.
An ihrem Arbeitsplatz als Sekretärin an einer der Münchner Universitäten lernte Monika Göth ihren späteren zweiten Mann Dieter kennen. Er war ganz anders als ihr erster Mann: ruhig, gutmütig, freundlich. «Ein Lottotreffer», sagte Monika Göth über ihn. Nach der Heirat nahm Monika den Familiennamen ihres Mannes Dieters an, unter dem sie fortan auch in der Öffentlichkeit auftrat. Dieter bekam eine Stelle auf dem Land und zog mit Monika und ihrer Tochter Charlotte in ein kleines bayerisches Dorf.
Schon früh nahm Charlotte Drogen: Sie wurde als Jugendliche heroinsüchtig und kämpfte jahrelang mit der Sucht.
Zum Treffen mit Familie Sieber nahm Monika Göth ihren Mann Dieter mit. Inge und Gerhard Sieber hatten einen Tisch im Garten unterm Apfelbaum gedeckt, gemeinsam mit Jennifers älterem Bruder Matthias empfingen sie Monika Göth und ihren Mann.
Inge Sieber fand Jennifers Mutter nun zugewandter: «Sie war sehr nett und meinte zu mir, ich hätte auch sie adoptieren sollen, dann hätte sie es besser gehabt. Ihr Lob hat mich gefreut und angerührt.» Matthias erinnert sich an ein eher verkrampftes, distanziertes Gespräch. Sehr nervös sei Jennifers Mutter gewesen.
Nach einiger Zeit sagte Inge Sieber zu Monika Göth: «Sie müssen aufbrechen, unsere gemeinsame Tochter wartet.»
*
Ich saß schon länger im Café am Wiener Platz in München und wartete. Eine Frau betrat den Raum, sie war in Begleitung eines Mannes. Fast hätte ich sie nicht erkannt: Sie hatte mittellange Haare, ihre Locken waren jetzt dunkelblond getönt. Das letzte Mal hatte ich sie vor fünfzehn Jahren gesehen, damals hatte sie lange, dunkle Haare, das mochte ich lieber.
Sie steuerte direkt auf mich zu. Ich stand auf.
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