Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Unsicher streckten wir uns die Hände entgegen. Ich war enttäuscht, dass sie ihren zweiten Mann mitgebracht hatte. Warum war sie nicht allein gekommen? Ich hatte mir ein Vier-Augen-Gespräch gewünscht.
Trotzdem war ich froh, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich redete viel, versuchte, einen guten Eindruck zu machen. Ich erzählte ihr von meinem Abitur, dass ich gerade in Frankreich gewesen war und vielleicht bald eine Freundin in Israel besuchen wollte. Sie sagte nichts dazu.
Sie hielt sich bedeckt, sprach kaum von sich. Ich wagte nicht, ihr die Fragen zu stellen, die mir wirklich wichtig waren: Warum hast du mich weggegeben? Warum habe ich dich und meine Großmutter nicht mehr gesehen? Woran ist Irene gestorben?
Wir hatten so viel Zeit verloren. Wir saßen uns gegenüber, der Abstand zwischen uns schien riesig.
Zum Abschied gaben wir uns wieder förmlich die Hand.
Ich hoffte, wir würden uns wiedersehen, doch meine Mutter rief nicht mehr an. Nicht nach einer Woche, nicht nach einem Monat und nicht nach einem Jahr.
Auch ich meldete mich nicht. Es war keine bewusste Entscheidung – ich ging einfach davon aus, dass sie mich anrufen würde. Sie war ja die Mutter. Auch bei Charlotte rief ich nicht an, denn sie lebte noch bei meiner Mutter.
Jahre nach dem Treffen im Café lag ich auf der Couch meiner ersten Therapeutin, die mich wegen Depressionen behandelte. Sie fragte nach meiner Mutter. Plötzlich begann es in meinem Kopf zu rauschen. Wie in einem Film lief die Begegnung mit meiner Mutter noch einmal vor mir ab. Da endlich begriff ich, dass sie keinen Kontakt mehr zu mir wollte und sich nie wieder melden würde.
Der Abschied im Café war kein offenes Ende. Sie hatte nicht vergessen anzurufen: Sie wollte es einfach nicht. Warum? War ich ihr so wenig wert? Viele Monate schwankte ich zwischen Wut und Trauer. Am schlimmsten aber war die Ohnmacht.
Als die Depressionen kamen, gab es Tage, da saß ich einfach nur da, das Fotoalbum mit den Bildern aus meiner frühesten Kindheit auf den Knien, und versuchte mich an alles zu erinnern. Ich ging zu Inge und Gerhard und stellte Fragen. Fragen, die ich schon viel früher hätte stellen sollen: Wie war es, wenn ich meine Mutter traf? Wie habe ich sie begrüßt? Habe ich sie zum Abschied umarmt, gab es so etwas wie Zärtlichkeit? Kannten sie ihren gewalttätigen Mann? Inge und Gerhard wirkten überrascht, dass ich das Thema zu diesem Zeitpunkt ansprach, nach all den Jahren. Sie sagten, an Herzlichkeit, an Umarmungen zwischen mir und meiner Mutter könnten sie sich nicht erinnern. Auch hätten sie ihren Mann Hagen nie kennengelernt.
Viele Jahre blieb ich mit meinen Fragen allein. Zwischendurch überlegte ich ein paar Mal, meine Mutter zu kontaktieren, tat es dann aber nicht.
Als ich ihr endlich schreibe und wir danach das erste Mal telefonieren, frage ich sie auch nach meiner Halbschwester Charlotte. Meine Mutter gibt mir ihre Telefonnummer. Ich rufe Charlotte an, wir verabreden uns. Wieder sehe ich zuerst meine Schwester, bevor ich meine Mutter treffe.
Ich bin überrascht, wie hübsch Charlotte aussieht. Sie trägt ihr langes Haar offen, hat einen schön geschwungenen Mund. Äußerlich sieht man ihr die schweren Jahre kaum an. Auch diesmal spreche ich mit Charlotte über unsere unterschiedlichen Kindheiten, über unsere gemeinsame Mutter. Ich habe den Eindruck, bei Charlotte werden durch unsere Unterhaltung Erinnerungen wach, die sie gern weiter verdrängt hätte. Bei meinen Besuchen im Hasenbergl hatte ich die zerrüttete Ehe meiner Mutter mit Hagen mitbekommen. Charlotte verbrachte ihre ganze Kindheit in diesem Haushalt, sie hat all die Auseinandersetzungen miterlebt.
Ich merke, dass unser Gespräch sie mitnimmt, sie tut mir leid. Ich finde es schön, sie wiederzusehen, aber ich weiß nicht, wie sie unser Treffen empfindet. Frage ich zu viel? Oder erzähle ich zu viel von meinem Leben, von dem Auslandsstudium, den Reisen – all den Chancen, die sie nie hatte? Ich möchte meiner Schwester nicht weh tun.
Ich werde wieder wütend auf meine Mutter: Warum hat sie Charlotte nicht beschützt? Aber ich habe mir vorgenommen, nicht mehr wütend zu sein. Ich möchte meiner Mutter offen gegenübertreten, ohne Vorbehalte.
Ich hätte gern eine Beziehung zu ihr. Mein Leben ist zwar getrennt von ihrem verlaufen, aber letztlich waren wir doch miteinander verbunden. Auch ich habe die Bürde dieses Familiengeheimnisses mitgetragen.
*
Für Jennifer Teege war schnell klar:
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