Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
zurückziehen, oder sollen sie dort weiterleben und weiterbauen, rund um die Uhr bewacht von jungen israelischen Scharfschützen?
Als Jennifer Teege Ende 1991 nach Tel Aviv kam, galt die Stadt bereits als Rückzugsort des modernen, demokratischen Israel.
Hier lebt seit jeher die kreative Szene des Landes: Künstler und Schriftsteller wohnen in Tel Aviv; Plattenfirmen, Werbeagenturen und Computerfirmen haben hier ihren Sitz. Linke und Liberale, Schwule und Lesben lieben die Stadt für ihr unorthodoxes Lebensgefühl.
In den Jahren nach der Staatsgründung kamen so viele Juden nach Tel Aviv, dass die meisten Häuser in Windeseile hochgezogen wurden. Zuvor hatten hier junge europäische Architekten rund 4000 Gebäude im Bauhaus-Stil errichtet, die «weiße Stadt».
Inzwischen leben in Tel Aviv rund 400 000 Menschen, eingewandert aus über 100 Nationen.
Tel Aviv ist ein Ort des Neuanfangs, eine Stadt ohne Erinnerungen. Eine Gegenwelt zur Hauptstadt Jerusalem, wo jeder Stein eine Geschichte erzählt und der religiöse Fanatismus blüht.
Tel Aviv ist nicht schön und malerisch wie Jerusalem, dafür jung und modern, laut und hektisch, weltoffen und tolerant. Im Sommer stinkt es nach Abgasen und Müll, magere Katzen suchen am Strand nach Essbarem.
Israelis sagen, das wichtigste Wort, das man in dieser Stadt kennen müsse, sei: Lisromm – sich locker machen, flexibel sein. In Jerusalem werde gebetet, in Haifa gearbeitet – und in Tel Aviv, da werde gelebt.
Vor allem in den neunziger Jahren pflegte die Stadt ihr Image als cool-beschwingter Party-Planet. «The Bubble», die Seifenblase, wurde der sorglose Alltag in den Szenevierteln Tel Avivs auch genannt.
Dabei hatte bereits Ende 1987 die erste Intifada, der palästinensische Aufstand gegen die israelischen Besatzer, begonnen, im selben Jahr gründeten Palästinenser in Gaza die radikalislamistische Organisation Hamas. Auch Bombenattentate erschütterten schon regelmäßig das Land.
Noch zu Beginn des Jahres 1991 ließ der irakische Diktator Saddam Hussein während des zweiten Golfkrieges mehrfach Raketen auf Tel Aviv und Haifa abfeuern, obwohl Israel an diesem Krieg offiziell nicht teilnahm. Jennifer Teeges Freundin Noa erinnert sich: «Während des Beschusses durch den Irak lebten wir in ständiger Todesangst. Immer wieder heulten die Alarmsirenen und kündigten Angriffe an. Über zwei Monate lang hatte ich die Fenster meines Zimmers mit Plastikfolien luftdicht zugeklebt. Gasmasken und Mineralwasser für mehrere Wochen lagen bereit.»
Als Jennifer Teege nach Tel Aviv kam, lagen die irakischen Angriffe fast ein Jahr zurück. Noa sagt: «Wir hatten Schlimmes hinter uns und genossen danach umso mehr das Leben. Es war eine unbeschwerte Zeit, die fröhlichste, an die ich mich überhaupt erinnere.» Auf den Partys in Tel Aviv schienen Leid und Gefahr weit weg zu sein.
In Israel, um 1992
*
Am nächsten Tag war ich früh auf den Beinen. Bisher hatte ich Tel Aviv nur vom Taxi aus gesehen, jetzt wollte ich die Stadt zu Fuß erkunden. Ich setzte mich in ein Café und bestellte einen frisch gepressten Orangensaft, dazu einen Bagel, weil ich das für ein typisch israelisches Frühstück hielt.
Danach lief ich zur nahen Uferpromenade, Tayelet genannt. Hier reihen sich hohe Hotelbauten aneinander. Noa, die mich nicht begleiten konnte, weil sie zu einer Vorlesung musste, hatte mir noch einen Tipp mit auf den Weg gegeben: «Schau dir die Stadt von oben an!»
Ich schlich mich in ein Vier-Sterne-Hotel an der Promenade und fuhr mit dem Fahrstuhl in das oberste Stockwerk. Die Aussicht war spektakulär: Vor mir erstreckte sich die Skyline von Tel Aviv, bis in die Vororte konnte ich blicken. Zur anderen Seite hin sah ich den Strand und das Meer.
Ich ging zum Wasser. Strandbesucher mit nassen Haaren kamen mir entgegen, Jogger liefen vorüber. Aus den Strandcafés schallten israelische Schlager. Kinder bauten Burgen, im Wasser paddelten Wellenreiter. Ich zog meine Schuhe aus und ließ mich in den heißen Sand fallen.
Später schob ich mich in das Gedränge des Karmel-Markts, auf dem Verkäufer lauthals ihre Waren anpriesen: Obst und Gemüse, Unterwäsche, gefälschte Rolex-Uhren. Gleich gegenüber liegt die «Shenkin», laut Noa die angesagteste Straße im Nahen Osten: Cafés und Boutiquen, Platten- und Designerläden. Der Rückweg zu Noas Wohnung führte mich über den Rothschild-Boulevard, eine prächtige Allee, auf der sich Menschen jeden Alters trafen, Boule spielten und
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