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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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über Politik sprachen.
    Ich wollte jede Ecke erkunden, das ganze Land und seine Menschen kennenlernen. Besonders freute ich mich auf Jerusalem: die goldene Kuppel des Felsendoms, die silbrig glänzende der Al-Aqsa-Moschee. Bisher kannte ich die Stadt nur aus Büchern und Erzählungen. Jetzt würde ich sie zum ersten Mal mit eigenen Augen sehen. Am Busbahnhof von Tel Aviv stieg ich in ein Sammeltaxi, ein Sherut.
    Durch die verdreckten Scheiben konnte ich die Landschaft nur unscharf erkennen: kahle Hügel, dazwischen kleine Dörfer und immer wieder Soldaten und Militärabsperrungen. Nur 70  Kilometer südlich von Tel Aviv liegt der Gazastreifen, rund 50  Kilometer östlich das Westjordanland. Mir wurde bewusst, wie klein Israel war – viel kleiner, als ich es erwartet hatte.
    Nach einer Stunde erreichte ich Jerusalem.
    Zum Damaskustor am nördlichen Teil der Stadtmauer waren es nur wenige Meter. Vor dem gewaltigen Torbogen blieb ich stehen. Zwischen den Zinnen der Mauer gingen bewaffnete Soldaten hin und her, sie trugen Maschinengewehre, Helme und kugelsichere Westen. Als die Soldaten meinen neugierigen Blick bemerkten, fixierten sie mich ebenfalls. Ich wandte mich schnell ab und lief durch das Tor, in den arabischen Teil der Altstadt hinein: enge Gassen, mehrstöckige schmale Häuser, überdachte Ladenzeilen. Es duftete nach Tee und Gewürzen. Verkäufer sprachen mich an, wollten mich in ihre Läden locken. Kinder in blauen Schuluniformen tobten zwischen den Häuserzeilen herum. Händler transportierten frische Lebensmittel auf Handkarren durch die steilen engen Gassen und mussten immer wieder abbremsen.
    Orthodoxen Juden begegnete ich im arabischen Teil der Altstadt nicht. Hier lebten die Moslems weitgehend unter sich. Ganz anders weiter östlich in der Nähe der Klagemauer: Fromme Juden eilten mir im Laufschritt entgegen. Sie trugen schwarze Hosen und lange Mäntel, darunter flatterten die Gebetsschnüre.
    An der Klagemauer staunte ich über die rückwärts laufenden Menschen. Später erfuhr ich, dass sie dem Heiligtum nicht den Rücken zukehren wollen und sich deshalb erst nach einigen Metern umdrehen.
    An der Klagemauer beten Männer und Frauen getrennt. Die Männer legten schwarz-weiß gestreifte Schals um, vor- und rückwärts wippend sprachen sie ihre Gebete. Daneben, an dem kleineren Teil der Mauer, der für sie reserviert ist, standen die Frauen. Ihre Lippen bewegten sich stumm zum Gebet.
    Ich stellte mich zu den Frauen und berührte den glatten, abgegriffenen Kalkstein mit der Hand. Gebete und Nachrichten in die Ritzen zwischen den Steinen der Klagemauer zu stecken, ist eine jüdische Tradition. Ohne lange nachzudenken, schrieb ich einen Wunschzettel und schob ihn zwischen all die anderen in einen Mauerspalt. Dann ging ich langsam rückwärts. Auf meinen Zettel hatte ich geschrieben, dass ich mir einen Freund wünschte.
    *
    Jerusalem. Die heilige Stadt. Heilig für drei Weltreligionen und deshalb so umkämpft wie keine andere.
    Hier befinden sich auf engstem Raum nebeneinander die Pilgerstätten von Islam, Christentum und Judentum: Die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom auf dem Tempelberg sind nach Mekka und Medina die bedeutendsten Monumente der Muslime; zur Grabeskirche, wo der Überlieferung nach Jesus gekreuzigt und begraben wurde, pilgern die Christen; die Klagemauer, Westmauer des letzten jüdischen Tempels, ist das bedeutendste Heiligtum der Juden.
    Wem gehört Jerusalem? Diese Frage war zentraler Streitpunkt seit dem Beginn des Nahostkonflikts. Der rechtliche Status Jerusalems ist unklar. Faktisch ist die Stadt geteilt in einen vorwiegend arabischen Ostteil und einen jüdischen Westteil.
    Geteilt auch zwischen Strenggläubigen und Ungläubigen. Fast die Hälfte aller ultraorthodoxen Israelis lebt in Jerusalem. Ihr Viertel Mea Shearim erinnert an ein Schtetl im neunzehnten Jahrhundert. Die Bewohner sprechen untereinander Jiddisch, einen aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangenen Dialekt, den man als Deutscher ansatzweise verstehen kann.
    Die Ultraorthodoxen befürworten eine strenge Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit, so sollen Frauen im Bus hinten sitzen. Den weltlichen Staat Israel lehnen viele der Orthodoxen ab, sie studieren die Thora und arbeiten nicht. Etwa 60  Prozent der ultraorthodoxen Familien in Israel leben in Armut.
    Orthodoxe Paare bekommen meist zahlreiche Kinder. Die weltlichen Israelis sehen mit Sorge, dass in vielen Schulklassen in Jerusalem die orthodoxen

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