Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Jugendlichen in der Mehrheit sind. Stetig wächst auch der Einfluss der streng religiösen Juden auf die israelische Politik.
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«Mea Shearim» bedeutet «Stadt der hundert Tore». Mit Noa und Anat hatte ich über das religiöse Viertel gesprochen. Sie sagten, weltliche Israelis würden diese Gegend meiden. Am Sabbat, dem heiligen Tag der Juden, an dem die Strenggläubigen ruhen, hätten die Einwohner von Mea Shearim Fremde, die sich dem Stadtteil mit dem Auto näherten, mit Steinen beworfen.
Ich wollte sehen, wie die Menschen dort leben. Ich ging vorbei an verfallenen Häusern und verschachtelten Hinterhöfen. Von den Balkonen flatterte die Wäsche.
Schon die Altstadt von Jerusalem hatte etwas Museales, Gestriges, aber gleichzeitig war sie bunt und lebendig. Mea Shearim wirkte dagegen dunkler und bedrohlicher. Die Häuser wurden eng aneinandergebaut. Auch hier sah ich viele Kinder, aber sie senkten den Blick, sobald ich sie ansah.
Auf den Köpfen der Männer saßen Hüte oder Pelzmützen, seitlich darunter hingen die Schläfenlocken.
Die Röcke der Frauen reichten bis zu den Knöcheln, ihre Füße steckten in Sandalen und dunklen Strümpfen. Ich wunderte mich zunächst, dass fast alle den gleichen Pagenschnitt trugen. Dann fiel mir ein, was Noa mir erzählt hatte: Die orthodoxen Frauen würden in der Regel sehr früh verheiratet, scherten sich dann das Haar und trügen fortan in der Öffentlichkeit eine Perücke.
An jeder zweiten Kreuzung in Mea Shearim hing ein Warnschild, das Touristen in verschiedenen Sprachen ermahnte, nur mit bedeckten Armen und Beinen durchs Viertel zu gehen.
In Mea Shearim leben die Menschen ohne Radio, Fernsehen oder Internet. An den mehrstöckigen schmalen Häusern hingen Plakate. Dort verkündeten die Einwohner Neuigkeiten: Geschäftseröffnungen, Vorträge und Hochzeiten. Auch bizarre Meldungen hingen dort: Die Rabbiner luden ein, zusammen für Regen zu beten. Daneben Warnungen: Jungen und Mädchen dürften nicht zusammen im Bezirk spazieren gehen.
Wie konnte man so leben, in einer Welt voller Gebote und Verbote, zurückgeworfen ins vorletzte Jahrhundert?
Noa hatte mir von einer Freundin erzählt, die einen orthodoxen Mann geheiratet hatte. Noa bedauerte das sehr: «Jetzt lebt sie auf einem anderen Planeten.»
Ich fuhr mit dem Sammeltaxi zurück nach Tel Aviv. Es war schon spät, als ich eintraf. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen zu sehen. Freitagabend, der Sabbat begann. In den Fenstern vieler Wohnungen brannten Kerzen, Familien deckten gemeinsam den Tisch.
Noa und Anat feierten den Sabbat nicht. Ich saß an diesem Abend noch lange mit den beiden zusammen, wollte mehr über das Land erfahren. Anat empfahl mir, eine Zeitlang mit anderen ehrenamtlichen Helfern aus aller Welt gegen freie Kost und Logis in einem Kibbuz zu arbeiten. Sie hatte während ihres Militärdienstes im Kibbuz «Eilot» im Süden Israels gelebt und dort Alon, ihren Freund, kennengelernt. Am nächsten Morgen rief Anat im Kibbuz an und organisierte mir einen Platz.
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Anats Lebensgefährte Alon ist im Kibbuz Eilot aufgewachsen. Einige Wochen nach seiner Geburt im Jahr 1965 brachten ihn seine Eltern ins Kinderhaus des Kibbuz. Er lebte dort mit den anderen Kindern, betreut von einer Erzieherin. Seine Mutter sah er jeden Nachmittag, bevor er zum Schlafen wieder ins Kinderhaus zurückkehrte. Noch heute erinnert er sich, wie er sich in den Nächten nach seiner Mutter sehnte.
Die patriarchale Kleinfamilie – Vater, Mutter, Kinder – galt in den Anfangsjahren vieler Kibbuzim als überlebtes Modell. Die Kindererziehung wurde an Erzieherinnen delegiert. Frauen sollten ebenso arbeiten wie Männer. Auch Haushaltstätigkeiten waren ausgelagert: In den Kibbuzim gab es zentrale Wäschereien, Schneidereien sowie eine Küche und einen Speisesaal, wo die Bewohner gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen konnten.
Der Kerngedanke des Kibbuz ist ein Leben in Gemeinschaft. Die Gründer der ersten Kibbuzim orientierten sich an sozialistischen und zionistischen Ideen. Sie wollten einen jüdischen Arbeiterstaat auf eigenem Boden aufbauen.
Der erste Kibbuz wurde vor über einhundert Jahren am See Genezareth gegründet. Mittlerweile gibt es rund 280 dieser Dörfer.
Der Kibbuz Eilot entstand 1962 . Er liegt am südlichsten Zipfel Israels, am Rand der Wüste Negev, inmitten zerklüfteter Bergketten, zwischen Jordanien und Ägypten.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat 25 Jahre in einem Kibbuz gelebt. Seine Bilanz:
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