Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
ragen in den Himmel. In der Innenstadt gibt es immer noch viele verfallene Gebäude, die Fassaden sind schmutzig und angegriffen von Abgasen und Salzluft; daneben strahlen die frisch renovierten Häuser umso heller.
An der ruhigen kleinen Rehov Engel, der Engel-Straße, liegt zwischen Palmen und blühenden Büschen das Haus, in dem ich mit Anfang zwanzig ein WG -Zimmer bewohnte. Hier saß ich vor vielen Jahren vor dem Fernseher und sah mir den Film «Schindlers Liste» an.
Die Sonne, die Salzluft, der kehlige Klang des Hebräischen: Alles ist vertraut. Aber ich bin eine andere.
Als ich vor über 20 Jahren hierherkam, um meine Freundin Noa zu besuchen, war ich jung, neugierig und unbelastet. Zurück kehre ich nun als die Enkelin von Amon Göth.
Noa war der Grund, warum ich das erste Mal nach Israel kam.
Sie war auch der Grund, warum ich mich nach der Entdeckung meiner Familiengeschichte vor nun fast drei Jahren nicht mehr hierherwagte.
Ich traf sie in Paris. 1990 hatte ich Abitur gemacht und war danach für ein Jahr in die französische Hauptstadt gezogen. Ich betreute die Kinder einer Pariser Familie und besuchte Kurse an der Universität Sorbonne. Zusätzlich bereitete ich an einer Kunstschule eine Bewerbungsmappe vor: Nach meiner Zeit in Paris wollte ich Graphik- oder Kommunikationsdesign studieren.
In einem Kurs zum Aktzeichnen lernte ich Noa kennen. Beide bemühten wir uns, die Proportionen des anwesenden Modells korrekt zu zeichnen. Nach der Stunde standen wir noch auf dem Flur und unterhielten uns lange.
Mir gefielen ihre Schlagfertigkeit und ihr Humor. Sie hatte blonde lange Locken und hellgrüne Augen. Offen sprach sie über sich und ihre Gefühle. Sie erzählte mir, dass es Tage gebe, die irgendwie anders waren – Noa nannte sie «camera days». Ich kenne diese Tage, an denen man als stiller Beobachter durch die Stadt geht, die Welt heran- und wieder wegzoomt. Noa schaffte es, dieser Empfindung, die sich nur schwer in Worte fassen lässt, einen Begriff zu geben. Ich mochte ihre treffende Sprache und ihren besonderen Blick auf die Welt.
Noa war wie ich Anfang zwanzig und begleitete ihren Vater nach Paris, einen Künstler, der dort ein Stipendium erhalten hatte. Noas Vater trug im Winter stets Schwarz, im Sommer war er nur in Weiß gekleidet.
Noas Mutter war Juristin. Sie hatte schon öfter in Deutschland zu tun gehabt, auch in München. Noa war als Jugendliche einige Male mitgekommen. Nun versuchte sie, sich an die wenigen deutschen Worte zu erinnern, die sie damals aufgeschnappt hatte: «Bitte. Danke. Guten Tag.»
Für mich schrieb sie das hebräische Alphabet auf eine Serviette. Ich wunderte mich, dass man die Worte von rechts nach links schreibt. Noa erzählte von Israel, als sei es ein ganz gewöhnliches Land.
Nach einem Jahr verließ ich Paris. An den verschiedenen Universitäten, an denen ich mich für ein Designstudium beworben hatte, wurde ich nicht angenommen. Ich beschloss, Noa in Tel Aviv zu besuchen. «Wann kommst du mal nach Israel?», hatte sie mich beim Abschied in Paris gefragt.
Der Flug von München nach Tel Aviv dauerte vier Stunden. Noa erwartete mich in ihrer Wohnung. Sie öffnete mir fröhlich die Tür und zeigte mir kurz ihr Zimmer, in dem auch ich schlafen würde. Auf dem Balkon saß ihre Mitbewohnerin Anat. Sie war etwas älter als Noa und hatte rotblondes Haar. «Anat, das ist Jenny», stellte Noa mich vor. Anat und ich gaben uns die Hände. Schon drängte Noa zum Aufbruch: Sie wolle unser Wiedersehen an einem besonderen Ort feiern.
Noa winkte ein Taxi heran, und wir fuhren an der Strandpromenade entlang in den Süden von Tel Aviv, bis wir schließlich nach einer halben Stunde auf einer Schotterpiste zum Stehen kamen. Ich stieg aus und blickte mich um: Wir standen auf einer steilen Klippe, unter uns das Meer. Vor uns lag unter freiem Himmel eine Bar, zum Bersten voll.
Die Bar hieß «Türkis». Auf grünem Gras standen Liegestühle und Hollywoodschaukeln. Immer mehr Menschen strömten in die Bar. Ich fand die Frauen auffallend hübsch, fast alle hatten lange dunkle Locken.
Rückblickend fällt es mir schwer zu sagen, was ich erwartet hatte. Bestimmt jedoch keine ausgelassenen Menschen, die zwischen Palmen und bunten Sonnenschirmen in Hollywoodschaukeln sitzen und bei Chill-out-Musik aufs Meer blicken.
Durch meinen Geschichtsunterricht und die Berichterstattung über Israel war ich auf einen permanenten Ausnahmezustand vorbereitet. Ich dachte an den Holocaust und
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