Amors Glücksfall (German Edition)
Brustkorb jetzt regelmäßig ohne irgendwelche Hilfsvorrichtungen. Die Kopfverbände sind größtenteils weg, sodass ich das Gesicht gut erkennen kann. Für einen Moment empfinde ich Mitleid für Lorenzo. „Du musst dich furchtbar langweilen, mein Freund!“, denke ich und erwische mich erneut dabei, wie ich zur Tür sehe. Wo bist du, Stella? So geht es die nächsten zwei Stunden. Ich laufe im Krankenhausflur herum, komme wieder ins Zimmer und sitze schweigend da. Mit meiner Mutter neben mir, ohne sie. Am Fenster, zur Tür starrend. Doch es bleibt lediglich bei der Hoffnung.
Stella kommt auch weitere zwei Stunden später nicht. Also fahre ich heim, schleppe mich die Treppe hinauf und lasse mich ins Bett sinken. Müde und enttäuscht bin ich. Das aber weniger wegen Stella. Es ist vielmehr meine eigene Unfähigkeit, etwas auszurichten, die mich zermürbt. Ich fühle mich wie Lorenzo, der in meinem Körper gefangen ist, dazu verdammt, nichts tun zu können. Eigentlich ist es sogar noch schlimmer, weil ich alles mitbekomme und weil ich fast gar nicht mehr schlafen kann, sondern immerzu nachdenke. Was ist, wenn der schlimmste Fall genau der ist? Die Ärzte sagen, es gibt keinen Grund, dass ich nicht aus dem Koma erwache. „Organisch ist alles in Ordnung“, sagen sie.
In meinem Kopf bildet sich ein Gedanke, den ich nicht denken will. Ich starre zur Decke, versuche mich davon frei zu machen, was mir keine Ruhe lässt : „Lorenzo, ich, ich, Lorenzo.“ Es ergibt keinen Sinn. Ich komme zu keinem Ergebnis.
Nach einer Weile aber komme ich wenigstens zu ein bisschen Schlaf. Ich kann förmlich spüren, wie ich wegdöse. Dankbar gleite ich ins Nichts und freue mich darauf, etwas Ruhe zu finden. Was allerdings nicht wirklich lange dauert. Noch mit geschlossenen Augen spüre ich irgendwann einen Blick auf mir. Es kommt mir vor, als wäre ich wieder fünfzehn. Unsere Hauskatze weckte mich manchmal auf diese Art. Sie saß da und starrte mich solange an, bis ich meine Augen öffnete und ihrer geräuschlosen Aufforderung nach ein bisschen Futter nachkam.
Tatsächlich starrt sie mich an. Die grünen Augen haben zudem auch wirklich etwas Katzenhaftes. Für einen Moment kommt es mir vor, als w ürde ich von ihr hypnotisiert. Sie bewegt sich nicht. Auf dem Bettrand zwischen uns sehe ich den Schlüssel mit dem kleinen Amor daran. Mein Schlüssel, den sie mir vor Wochen zurückgegeben hatte. Ich fasse nicht, dass sie da ist, betrachte sie ungläubig, reibe meine Augen.
„Stella?“ Es kommt mir vor, als träume ich noch.
„Du hast den Schlüssel stecken lassen“, sagt sie leise. Ich richte mich ein bisschen auf. „Ich war im Krankenhaus“, sagt sie außerdem nach einer Weile, in der wir uns schweigend anstarren. Immer mehr machen mich ihre Worte wach. „Ich habe Frau Hübner kennengelernt“, sagt sie. Erst jetzt begreife ich, dass sie wirklich da ist. „Wahrscheinlich haben wir uns nur knapp verpasst“, denke ich. „Und ich habe Mark gesehen“, höre ich und fühle, wie sich die Haare auf meinen Unterarmen nacheinander aufstellen. „Woher wusstest du, dass er dort ist?“, fragt sie. In ihren Augen sehe ich eine Mischung aus Irritation und Abscheu. Das Eine kann ich nachvollziehen. „Was hat Mutter ihr nur erzählt?“, überlege ich. „Was soll das alles?“, ihre Stimme zittert. Ich drehe mich auf die Seite und setzte mich auf.
„Ich habe dich angelogen“, sage ich. Stellas Gesicht ist ausdruckslos. „Heute früh habe ich dich angelogen, meine ich.“ Für einen Moment erkenne ich Erleichterung.
„Heute früh?“, fragt sie.
„Kannst du dich noch an die MUC -Nacht erinnern?“
Natürlich kann sie. Allerdings weiß ich noch immer nicht, wie viel sie von meiner nächtlichen Erzählwut mitbekommen hat.
„Das mit dem Krankenhaus“, flüstert sie. Ich nicke. Sie erinnert sich. Ich stütze meine Ellenbogen auf die Knie, lege den Kopf in die Handflächen und beginne ihr den Rest zu erzählen.
Fast eine Stunde später sitzen wir auf der Couch in Lorenzos Wohnzimmer. Diesmal koche ich selbst einen Tee für uns auf. Verständlicherweise glaubt sie mir kein Wort.
„Wie oft hat Lorenzo dich angelogen?“, frage ich. Sie schweigt. „Und ich?“ Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, meinen Namen auszusprechen. Stella sagt noch immer nichts. Doch die Antwort kann ich o hne Weiteres in ihrem Gesicht lesen. Ich bin mir sicher, dass sie mir die Geschichte nicht abkauft. Doch dieses eine letzte
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