Amsterdam-Cops 04 - Tod eines Strassenhaendlers
auf den Commissaris. Grijpstra stieg an Bord, de Gier zögerte.
«Willst du nicht mitkommen, de Gier?» fragte der Commissaris.
«Vielleicht sollte ich noch einmal mit Esther Rogge und diesem jungen Louis Zilver sprechen. Ich hätte gern eine Liste von Abes Freunden und Freundinnen.»
«Hat das nicht bis morgen Zeit?»
«Es könnte warten», sagte de Gier, «aber wir sind nun einmal hier.»
«Grijpstra?»
Grijpstra machte ein unverbindliches Gesicht.
«Also gut», sagte der Commissaris. «Aber übertreib’s nicht. Die Frau ist müde, und mit diesem jungen Mann ist nicht so leicht auszukommen. Reiß dich also ein bißchen zusammen.»
«Nein, Mijnheer», sagte de Gier und drehte sich auf dem Absatz um.
6
Sein Anzug war mit Seifensteinpulver befleckt und sein rechtes Hosenbein mit roter Farbe beschmiert. Er hatte nicht gemerkt, daß er von einem Farbbeutel getroffen worden war. Seine Socken waren noch naß, denn obwohl ihn der Wasserwerfer nicht voll getroffen hatte, war er gezwungen gewesen, durch Pfützen zu rennen, wobei ihm Schlamm in die Schuhe gesickert war. Er wäre sehr gern nach Hause gegangen, um heiß zu duschen und es sich in seiner kleinen Wohnung im Kimono gemütlich zu machen, den er in einem Kaufhaus an einem sogenannten «japanischen» Tag erworben hatte. Er wünschte sich, daß Olivier auf seinen Beinen schlief, während er in der Zeitung blätterte, rauchte und Tee trank. Er würde auch essen, vielleicht Spaghetti, ein Gericht, das er schnell und schmackhaft zubereiten konnte, und Olivier würde auf dem Sessel sitzen, seinem einzigen Sessel, während er auf dem Bett hockte und die Spaghetti aus der Schüssel aß. Und nachher eine Zigarette auf dem Balkon. Wegen seiner Blumenkästen müßte er auch etwas unternehmen. Er hatte, wie letztes Jahr, wieder Lobelien und Steinkraut darin und in einem Topf an der Wand eine Geranie. Dabei gab es viel interessantere Pflanzen. Er blieb stehen und fluchte. Elisabeth, die geschickte Gärtnerin. Nellie und ihre dreihundertfünfzig Gulden. War er zur Kripo gegangen, um verrückte Leute kennenzulernen? Um sie ständig um sich herum zu haben? Um zu versuchen, sie zu verstehen? Um, wie es der Commissaris nahegelegt hatte, seine Verbindung mit ihnen herauszufinden? Der Commissaris! Verrückter kleiner Zauberer mit einem Hinkebein.
«Sprich nicht so über den Commissaris, Rinus», sagte er zu sich selbst. «Du bewunderst den Mann, stimmt’s? Du magst ihn. Er ist ein erfahrener Mann und weiß viel mehr als du. Er ist verständig. Er steht auf einem anderen Niveau. Höher, Rinus, viel höher.»
Er war vor Esthers Haustür angelangt, klingelte aber nicht. Die Barkasse legte ab, der Brigadier der Wasserschutzpolizei holte die Leine ein. Der Commissaris und Grijpstra sprachen auf dem Vorderdeck miteinander. Sie nahmen vermutlich an, er sei schon hineingegangen. Vielleicht würde er überhaupt nicht hineingehen. Was wollte er hier eigentlich? War er wirklich der tüchtige Polizist, tüchtig und energisch, der weitermachte, während andere sich eine Pause gönnten? Oder wollte er nur noch einmal Esthers Hand halten? Eine wunderbare Frau, diese Esther. Keine billige Hure wie Nellie, die ihn verwirrt hatte mit ihren großen, aber wohlgeformten Titten und der dunklen, weichen Stimme, die manchmal brüchig klang. Eine Stimme kann nicht gleichzeitig brüchig und weich sein, aber ihre war es. Sie war es, verdammt noch mal. «Ruhig, Rinus», sagte er sich. «Du verlierst die Beherrschung. Das war heute zuviel für dich. Eine Leiche mit zerschmettertem Kopf und ein ganzer Platz voll tanzender Idioten, die mit Seifensteinpulver und Farbe werfen, und all die uniformierten Bullen, die gegen diese Idioten vorgehen, und die Sirenen – es war zuviel für dich. Der Commissaris hätte dich nicht zurücklassen sollen, er wußte, daß du durchdrehst. Aber er hat dich dennoch zurückgelassen, nicht wahr?»
De Gier lauschte in die Stille der Gracht. Und wenn der Commissaris ihn alleingelassen hatte, mußte er Vertrauen gehabt haben. Polizisten arbeiten gewöhnlich nicht allein, sondern zu zweit. Auch Kriminalbeamte arbeiten zu zweit. Damit der eine den andern zügeln kann, ihn, falls erforderlich, zurückhalten kann, falls er die Beherrschung verliert oder nach der Schußwaffe greift. Der eine Polizist schützt den andern, indem er ihn zurückhält. Er schützt ihn vor sich selbst. Die Polizei hat die Aufgabe, den Bürger vor sich selbst zu schützen. Der Polizist hat die Aufgabe,
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