Amsterdam-Cops 04 - Tod eines Strassenhaendlers
seinen Kollegen vor sich selbst zu schützen. Er sprach jetzt laut und leierte die Worte herunter.
«Scheiße», sagte de Gier und drückte die Klingel.
Esther öffnete die Tür.
«Sie», sagte Esther. «Brigadier Rinus de Gier.» De Gier versuchte zu lächeln. «Kommen Sie herein, Brigadier.»
Esther sah jetzt besser aus. Sie hatte wieder Farbe im Gesicht und sich die Lippen angemalt.
«Ich will gerade etwas essen. Leisten Sie mir Gesellschaft, Brigadier?»
«Gern.»
Sie führte ihn in die Küche. Er bekam einen Teller heiße Tomatensuppe aus der Dose. De Gier mochte keine Tomatensuppe und aß diese blutig aussehende Flüssigkeit sonst nie, aber jetzt machte es ihm nichts aus. Sie schnitt ihm eine Scheibe Brot ab, außerdem waren Gurken, Oliven und ein Stück blaugeäderter Käse auf dem Tisch. Er aß alles auf, während Esther ihn beobachtete.
«Kaffee können wir oben trinken.»
Er hatte beim Essen nichts gesagt und nickte jetzt nur.
«Ein hübsches Zimmer», sagte de Gier und setzte sich in den tiefen, niedrigen Sessel, den Esther ihm angeboten hatte, «und wie viele Bücher Sie haben …»
Esther machte eine Handbewegung zu den beiden mit Bücherregalen vollgestellten Wänden hin. «Tausend Bücher und nichts aus ihnen gelernt. Das Piano ist für mich nützlicher gewesen.»
Er stand auf und ging zu dem Stutzflügel. Eine Etüde von Chopin lag auf dem Notenständer. Er legte eine Hand auf die Tasten und klimperte, wobei er versuchte, die Noten zu lesen.
«Das klingt sehr hübsch», sagte Esther. «Spielen Sie oft?»
«Nein. Als Kind hatte ich Klavierstunden, aber ich ging über zur Flöte. Ich spiele mit Grijpstra, mit dem Adjudant, den Sie heute kennengelernt haben.»
«Was spielt er?»
«Schlagzeug», sagte er und lächelte. «Jemand hat vor Jahren in unserem Büro im Präsidium ein Schlagzeug stehenlassen, den Grund wissen wir nicht mehr. Aber Grijpstra erinnerte sich, daß er mal Schlagzeug gespielt hatte, und fing wieder an, und ich fand meine Flöte. Es ist vielleicht eine blöde Kombination, aber wir werden damit fertig.»
«Aber das ist schön», sagte Esther. «Warum sollten Schlagzeug und Flöte nicht zusammen passen? Ich würde Sie gern spielen hören. Ich könnte mitspielen. Warum kommen Sie nicht beide abends mal her, damit wir es versuchen?»
«Es ist improvisierte Musik», sagte er. «Wir verwenden einige Themen, hauptsächlich Kirchenmusik, sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, aber dann legen wir los und spielen irgend etwas. Triller und Trommel.»
«Ich werde mich irgendwie anpassen», sagte Esther zuversichtlich. Er lachte. «Gut. Ich werde Grijpstra fragen.»
«Was tun Sie sonst noch?» fragte Esther.
«Ich spiele mit meiner Katze und bemühe mich, meine Arbeit zu tun. Wie heute abend. Ich bin gekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen. Selbstverständlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Falls ja, werde ich morgen wiederkommen.»
Sie setzte sich auf den Klavierschemel. «In Ordnung, Brigadier, schießen Sie los. Ich fühle mich jetzt besser, besser als heute nachmittag. Ich habe sogar eine Stunde geschlafen. Vielleicht sollte man nicht schlafen, wenn der eigene Bruder ermordet worden ist, aber mir schien es am besten zu sein. Er war mein letzter Verwandter. Ich bin jetzt allein. Wir sind Juden. Für Juden ist die Familie sehr wichtig. Vielleicht irren wir uns. Die Menschen sind immer allein, es ist besser, sich dieser Wahrheit bewußt zu werden. Ich hatte nie viel Kontakt mit Abe, keinen wirklichen Kontakt. Sie sind ebenfalls allein, nicht wahr?»
« Ja.»
«Dann verstehen Sie es vielleicht.»
«Vielleicht. Hatte Ihr Bruder eine Waffe in seinem Zimmer, eine fremdartige Waffe? So etwas wie ein Knüppel mit einer stachligen Kugel an einem Ende, eine Waffe, die man schwingen kann?»
«Einen Morgenstern?» fragte Esther. «Sie meinen so eine mittelalterliche Waffe? Ich kenne sie. Sie wird oft in der niederländischen Literatur und Geschichte beschrieben. Ich hatte Geschichte an der Universität belegt, niederländische Geschichte, Mord und Totschlag zu allen Zeiten. Nichts ändert sich.»
«Ja, einen Morgenstern.»
«Nein, in Abes Zimmer war keine Waffe. Er hatte mal eine Pistole, eine Luger, glaub ich, aber er hat sie vor Jahren in die Gracht geworfen. Er sagte, sie passe nicht mehr zu seiner Philosophie.»
Esther fummelte in ihrer Handtasche. «Hier, dies hab ich gefunden, seinen Paß und ein Notizbuch.»
Er blätterte in dem Paß und sah Visa für die
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