Amy on the summer road
dann taten sie so, als würde es sie nicht interessieren, jedenfalls verloren sie nie ein Wort darüber.
Charlie war nicht in seinem Zimmer aufgetaucht und es sah total unverändert aus. Seine Poster von James Blake und Maria Sharapova hingen an der Wand und sein permanent ungemachtes Bett war zerwühlt wie üblich. Einmal hatte Charlie mich in seine Erkenntnis eingeweiht, dass es so für die anderen schwerer sei festzustellen, ob man die Nacht zuvor darin geschlafen hat. Ich schloss die Tür und sah noch
einmal auf meinem Handy nach. Charlie war normalerweise ziemlich gut darin, seine Spuren zu verwischen – deshalb schaffte er es überhaupt so lange, mit seinen Eskapaden davonzukommen.
Ich dachte an das Gespräch zurück, das wir vor ungefähr sechs Monaten auf unserer Veranda hatten, an meinen missglückten Versuch, etwas zu unternehmen. Als ich ihm drohte, alles unseren Eltern zu sagen, hatte ich auch damit gedroht, ihn nicht mehr zu decken. Aber ich hatte weder das eine noch das andere wahr gemacht, ganz so, wie er es vorhergesagt hatte. Und nun war ich wieder bereit, die Situation zu retten – wenn er mir nur einen Tipp gab. Ich schickte ihm eine SMS mit WO BIST DU??? – und dann starrte ich auf das Display und wartete. Doch es kam keine Antwort.
Also ging ich wieder nach unten, wo ich die Stimmen meiner Eltern in der Küche vernahm. Ich setzte mich auf die unterste Stufe, wo ich nicht zu sehen war, aber ihr Gespräch mithören konnte.
»Wen können wir denn noch anrufen?«, fragte meine Mutter mit tiefer Sorge in ihrer Stimme. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass sie sich wahrscheinlich keine Sorgen machen würde, wenn ich verschwunden wäre. Da würde sie einfach bloß wütend sein. Aber Charlie war halt schon immer ihr Lieblingskind gewesen.
»Vielleicht sollten wir einfach abwarten«, sagte mein Vater. »Ich meine, er wird schon wiederkommen ...«
Das Telefon in der Küche klingelte. Ich ging hinein und lehnte mich gegen den Tisch. Mein Vater lächelte mir zu, aber es war unübersehbar, wie angespannt er war. Keine Spur
mehr von dem fröhlich vor sich hin pfeifenden Rasenmähermann.
»Hallo«, meldete sich meine Mutter am Telefon. Während sie der Stimme am anderen Ende der Leitung zuhörte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. In die Sorge mischte sich nunmehr blanke Angst. »Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht richtig«, hörte ich sie sagen. »Er ist wo?«
An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Als Roger echt am Limit war, hatten wir uns ein Hotel gesucht. Er war augenblicklich eingeschlafen, aber ich hatte drei Stunden wach gelegen und abwechselnd die Lücke zwischen meinem und Rogers Bett und den Wecker angestarrt. Roger schlief tief und friedlich, sein Rücken hob und senkte sich gleichmäßig, und ich beneidete ihn um diese Ruhe. Ich hatte mein Handy neben mich aufs Bett gelegt und immer wenn ich es aufklappte, wurde eine neue Nachricht auf meinem Mailbox angezeigt. Langsam wurde mir echt unbehaglich zumute. Ich wusste, dass ich meine Mutter möglichst bald anrufen musste – theoretisch hätten wir an diesem Nachmittag Ohio hinter uns gelassen und Connecticut erreichen sollen. Und nicht Missouri, auf dem Weg nach Kentucky. Nicht eine andere Zeitzone. Als es auf sechs Uhr zuging, gab ich den Gedanken an Schlaf endgültig auf. Ich nahm mir die pinkfarbene Plastik-Keycard zu unserem Zimmer und mein Handy und ging hinaus in den Korridor, wobei ich die Tür ganz leise hinter mir zuzog, damit Roger nicht aufwachte.
Ich lief bis ans Ende des Korridors, wo ein großes Fenster auf den Highway hinausging. Dann holte ich tief Luft und drückte die Kurzwahltaste, mit der ich das Handy meiner Mutter erreichte.
Sie antwortete schon beim zweiten Klingelton und klang viel munterer, als ich das für sieben Uhr morgens nach ihrer Zeit erwartet hatte. »Amy?«, meldete sie sich. »Bist du das?«
»Hi, Mom.«
»Hi, mein Schatz«, war ihre Antwort. Ich musste ein paar Tränen wegblinzeln, als ich ihre Stimme hörte. Genau das war es, weswegen ich mich, so lange es ging, vor dem Anruf gedrückt hatte. Weil ich gerade so vieles auf einmal fühlte, wusste ich gar nicht, wie ich das alles verarbeiten sollte. Es war die reinste Gefühlsüberflutung. Erst tat es so gut, ihre Stimme zu hören, und im nächsten Moment war ich total wütend und wusste gar nicht richtig, warum.
»Ich bin ja so froh, dass du endlich anrufst. Aber, Amy, ich muss dir wirklich sagen ...«, fuhr sie fort, und
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