An den Feuern von Hastur - 9
ö llig fremden Ort zu sein, hatte sich noch nicht abgenutzt. Außerdem wußte sie, wenn sie das Zimmer so, wie es war, einmal satt hatte, konnte sie es m ö blieren lassen, ganz wie sie wollte. Dar ü ber sann sie eine Weile nach und versuchte, sich von dem ern ü chternden Gespr ä ch mit Fiora und dem Unbehagen, das sie immer noch erf ü llte, abzulenken.
Vielleicht sollte sie ihren Raum mit Wandbeh ä ngen aus karmesinroter Seide dekorieren? Nein, sie w ü rde noch genug Rot in ihrem Leben um sich haben, wenn sie Bewahrerin geworden war, und im Augenblick war sie entschlossen, sich mit nichts Geringerem zufriedenzugeben. Vielleicht eine blaue, mit Gr ü n durchschossene Seide, die sie auf dem Markt gesehen hatte, als sie durch Temora kam. Das war eine Farbe, die sie nie zuvor gesehen hatte, ein echter Triumph der Kunst des Webers, und sie w ü rde Helligkeit in diese Kammer bringen, das Gef ü hl, im Himmel zu leben.
Der Turm rings um sie schlief. Leonie war sich der schlafenden kleinen M ä dchen bewußt, einer einsamen Beobachterin an den Relais, die Botschaften von der Dauer eines Lidschlags ü ber das Angesicht der Welt schickte, von Dom ä ne zu Dom ä ne. Zu dieser Stunde war es ziemlich unwahrscheinlich, daß irgendwelche Botschaften durchkommen w ü rden, und doch mußte jederzeit eine Arbeiterin dort Wache halten, denn es konnte ja ein Notfall eintreten. Leonie war sich Fioras bewußt, die sich in ihrer ewigen Dunkelheit bewegte und sich zum Schlafengehen vorbereitete. Wie seltsam das sein mußte — niemals den Tag von der Nacht unterscheiden zu k ö nnen, außer durch die Handlungen anderer .
W ä hrend sie ü ber die Bewahrerin nachdachte, erkannte sie, daß sie eine Freundin gefunden hatte. Es war kein unangenehmer Gedanke, daß ihr Freundschaft jetzt dort entgegengebracht wurde, wo anfangs nur Feindseligkeit gewesen war. Fiora stand von nun an auf ihrer Seite — und obwohl ein schwerer Weg vor ihr lag, bis sie ihr Ziel erreicht hatte, w ü rde Fiora ihn nicht noch schwerer machen.
Leonie legte sich hin und versetzte sich in eine leichte Trance, statt einzuschlafen. Sie mußte unbedingt dem Grund f ü r ihre b ö sen Ahnungen auf die Spur kommen und versuchte mit der F ä higkeit, die sie Wetterver ä nderungen sp ü ren ließ, die Richtung festzustellen, aus der sie kamen. Ja, sie sah die Wettermuster, die sie ebenso gut kannte wie die Saiten der rryl, w ä hrend sie in der ü berwelt dahintrieb. Sie studierte sie aus Gewohnheit, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. Aber die Quelle ihres Unbehagens hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Sie sp ü rte einen Sturm, normal f ü r diese Jahreszeit. Irgendwer w ü rde davon ü berrascht werden, aber das war nichts Neues. Immerfort wurden Leute von St ü rmen ü berrascht, und sie wußten sich dann zu helfen. Sogar hier in Dalereuth verschwendete man keine Gedanken an das Schicksal eines Hirten oder seinesgleichen, der das Wetter nicht vorhersagen konnte. Kein Hirte w ü rde lange am Leben bleiben, wenn er keine Vorkehrungen traf, die ihm Schutz vor pl ö tzlich auftretenden St ü rmen boten.
Mit Gedankenschnelle reiste sie weiter, ohne darauf zu achten, wo sie war, und verlor die Orientierung. Als dieser Zustand eine Weile angedauert hatte, ü berlegte sie, ob sie in ihren K ö rper zur ü ckkehren solle. Allm ä hlich wurde sie m ü de. Dann nahm sie pl ö tzlich eine Frau wahr.
Oder vielmehr, das Gef ü hl, daß da eine Frau war. Leonie konnte sie nicht sehen. Auf dieser Ebene bedeutete Sehen nichts. Die Musik um sie herum hatte den Kontakt zustande gebracht. Leonie war es gew ö hnt, in musikalischen Begriffen zu denken, und als erstes erkannte sie das Instrument, das die Frau in den H ä nden hielt. Es war eine Fl ö te — zumindest f ü hlte es sich so an —, aber sie klang nicht wie irgendeine Fl ö te, die Leonie je geh ö rt hatte, denn der Ton war ein tiefer, voller Baß, aber trotz der Baßlage klang das Instrument unmißverst ä ndlich wie eine Fl ö te und f ü hlte sich auch so an.
Die Musik nahm Leonie gefangen und hielt sie fest — obwohl sie auf einer tieferen Ebene wußte, daß sie nicht eigentlich gefangen war, eher fasziniert, und daß sie sich jederzeit zur ü ckziehen konnte, wenn sie es w ü nschte. Doch im Augenblick w ü nschte sie es nicht.
Sie folgte dem Faden der Musik, der Melodien durch die Dunkelheit webte. Der ungew ö hnliche Klang verzauberte sie, und sie nahm die merkw ü rdigen Vibrationen durch einen
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