An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Umstände zu hinterfragen oder Ihren Leumund zu beurteilen.»
«Ach, der!» Sie winkte ab. Wenn sie sich um etwas keine Sorgen machen musste, dann um ihren Ruf – der dürfte hinüber sein. Wie es um seinen stand, wusste sie nicht. Er trug einen Ring, aber eine Frau hatte hier weit und breit keine Spuren hinterlassen. Sie wusste über ihn nur, dass er aus dem fernen Madrid stammte – im Gegensatz zu den hier geborenen Criollos, die sich gerne amerikanische Spanier nannten, war er ein waschechter. Die Schönheit und Weite des Landes hatten ihn hergelockt, wie so viele, so hatte Reinmar einmal erzählt. Und nun verbrachte der Doctor seine Tage in diesem stickigen Haus. Wir haben uns eben alle verschätzt , dachte Janna. «Trotzdem wundert mich, dass Sie mich nicht nach La Jirara zurückschicken.»
Cañellas nahm einen tiefen Schluck und rollte den heißen Kaffee auf der Zunge. «Ich heiße nicht alles gut, was Reinmar tut, nur weil ich ihn meinen Freund nenne. Er hat sich verändert …» Mehr sagte er nicht. Nun ja, Männer sprachen wohl nicht gerne über Männerfreundschaften.
«Also schön», sie erhob sich von der Bank, auf der sie kurz Platz genommen hatte. «Dann werde ich mich ums Frühstück kümmern.»
«Sie müssen das wirklich nicht tun, Señorita Sievers. Sie haben gestern schon viel zu viel getan.»
Zu viel? Chaotische Räumlichkeiten auf Vordermann zu bringen hatte sich bereits auf La Jirara als probates Mittel der Ablenkung erwiesen. Die beständig in ihrem Hinterkopf kreisende Frage, was sich derzeit in La Fidelidad zutrug, machte sie fast wahnsinnig. Außerdem schrie hier alles nach einer helfenden Hand. Sie hatte gebrauchte Verbände im Küchenherd verfeuert und einige, die noch brauchbar waren, ausgekocht; sie hatte neue zurechtgeschnitten, leere Flaschen, Gläser und Karaffen geputzt und sogar entgegen Cañellas’ Protest blutige Sägen und Zangen gesäubert.
«Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gleich gerne der Staubschicht auf den Porzellandosen zu Leibe rücken. Denen mit den merkwürdigen Aufschriften wie aqua benedicta rulandi oder spiritus aethereus. Was ist das eigentlich?»
«Brechwein und Ätherweingeist, hilfreich bei Frauenleiden. Und die Gläser mit den eingelegten Echsen und Käfern dienen der Gewinnung von Antidots.»
«Und dieser … Affenkopf?»
«Affenkopf?»
«Ja, in der Vitrine.»
«Das ist ein Schrumpfkopf. Das Geschenk eines Landsmanns von Ihnen.»
«Lassen Sie mich raten … Baron von Humboldt?»
Doctor Cañellas zog ein Taschentuch aus seiner Weste und begann seine Brille zu polieren. «Nicht ganz. Es war Aimé Bonpland, sein Begleiter, der Arzt und Botaniker, von dem mein Praxisvorgänger diese sonderbare Aufmerksamkeit erhielt, zum Dank für seine Hilfe. Bonpland litt an einem schweren Fieber. Wenn Sie das wirklich interessiert: Der alte Doctor hinterließ einen Stapel Aufzeichnungen; Sie können sich gerne in der Bibliothek bedienen.» Er zwinkerte ihr zu. «Da gibt es auch ein paar Romane. Ich habe zum Beispiel eine schöne spanische Ausgabe von Robinson Crusoe . Wenn Sie mögen.»
Heftig nickte sie. Auch dafür liebte sie dieses Land: dass es sie ständig auf diese Art überraschte. «Aber erst die Arbeit. Was möchten Sie frühstücken?»
«Hat Señor Götz jemals erwähnt, wie wir uns kennenlernten?», fragte er statt einer Antwort.
«Ja. Sie hatten ihn aufgesucht und gebeten, Ihr Reitpferd zu zähmen.»
«Compinche war entgegen seinem Namen der leibhaftige Teufel. Von seinem Schinken liegt noch einiges gepökelt unten im Eiskeller. Freundlicherweise beliefert mich die Gouverneursküche wieder mit Eisblöcken. Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe bereitet, so hätte ich sehr gerne ein kaltes Stück auf einer Scheibe Roggenbrot.»
Sie nickte, erfreut, ihm einen Gefallen tun zu können, und wollte gehen. Ein Donnern kam von der Haustür, und das ganze Haus schien unter dem Getrampel von Stiefeln zu erzittern. So heftig sprang Cañellas von der Bank hoch, dass sein Foliant zu Boden rutschte. Er rannte ins Haus. Janna folgte ihm in den Korridor. Weit kam sie nicht – rücklings kehrte er zurück, getrieben von einem Grenadier und zwei weiteren, die einen halb Bewusstlosen mit sich schleiften.
«Auf Befehl Bolívars!», schrie einer der Soldaten. «Dieser Mann braucht Hilfe!»
Unter der Stimme, die es gewohnt war, sich im Schlachtengetümmel verständlich zu machen, zuckte Cañellas zusammen. «Hier entlang, meine Herren», er wies auf einen Durchgang,
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