An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Reinmar legte die Büchse beiseite und kniete sich neben ihn.
«David! Tut mir leid, Junge. Komm, steh auf.» Eine dicke Schwellung begann sich an der Schläfe zu erheben und zu röten. Wenigstens floss kein Blut. Er schüttelte den Indio, und als das nichts half, zog er seinen Oberkörper so weit hoch, dass er am Küchenschrank anlehnte. «Wieso springst du für Bolívar in die Bresche, he? Meinst du, du erlebst noch das Ende der Sklaverei? So alt kannst du gar nicht werden. Außerdem wollte ich ihn ja gar nicht umbringen. Den anderen will ich in die Hölle schicken!»
Jetzt hätte er diesen lästigen und sowieso meistens nutzlosen Sklavenjungen am liebsten geohrfeigt. Er raffte sein Gewehr auf und rannte in die Halle zurück. Sie war verlassen. Fast wäre er über die herumliegenden Ketten gestolpert, als er zur Haustür und hinaus auf die Veranda stürzte. Einer nach dem anderen saßen die Soldaten auf. Arturo, dessen nackter Oberkörper inzwischen mit einer engsitzenden Uniformjacke bedeckt war, ritt mitten unter ihnen zum Tor. Im Wenden meinte Reinmar noch, ein verächtlicher Blick dieser düsteren Augen streife ihn. Er wollte die Büchse hochreißen.
«Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation, Señor Götz», sagte Bolívar, der auf seinem Atlasschimmel thronend in Reinmars Schussfeld ritt. Er rückte seinen Zweispitz zurecht. «Die Gegend ist derzeit nicht sicher. Das Fort war leicht zu erobern, da es schlecht befestigt war, aber wir haben nicht alle Spanier erwischt. Sie sollten sich in den Schutz der Stadt begeben.»
«Danke, aber ich komme zurecht», presste Reinmar zwischen den knirschenden Zähnen hervor.
«Wie Sie meinen, Señor.»
Der Schweif des Schimmels schlug so elegant aus, wie sich der Libertador im Sattel hielt, als er gemächlich, seinen Leuten folgend, vom Hof ritt. Dass Reinmar eine schussbereite Büchse hochhielt, schien ihn nicht zu bekümmern. Fluchend sicherte Reinmar die Waffe und kehrte ins Haus zurück. Wenigstens hatte Gott ein Einsehen: Die Augen des Jungen waren wieder klar.
***
Sie kochte Kakao und brachte Lucila eine Tasse ans Krankenbett. Das Mädchen schlief noch; unruhig zuckten seine schweren Lider im Schlaf. Janna berührte seine Hand und meinte eine schwache Erwiderung des Händedrucks zu spüren. Nach eingehender Untersuchung hatte Doctor Cañellas Lucila in diesen Raum hier verfrachtet, dessen drei Betten den Frauen ohne ansteckende Krankheiten vorbehalten waren. Das Mädchen müsse sich ausruhen und brauche Ruhe; ansonsten könne man nichts tun, außer ein wenig Laudanum und gutes Essen zu verabreichen.
Für seine Fürsorge würde Janna ihm ewig dankbar sein. Ohne irgendeine Erklärung zu verlangen, hatte er ihr eine Kammer im Obergeschoss überlassen, ebenjene, in der Reinmar während des Krieges gewohnt hatte.
Auch sich füllte sie einen Becher mit Kakao und trank ihn in langen, genüsslichen Schlucken. Dann brachte sie dem Arzt einen Becher mit Kaffee, stark und schwarz wie eine tropische Nacht. Raúl García Cañellas saß auf einer Bank im Patio, der mit Tonkübeln voller Kräuter und Gemüse vollgestellt war. Der kleine, wie eine Muschel geformte Springbrunnen verriet, dass dieses Haus einmal bessere Zeiten gesehen hatte.
Er bedankte sich mit einem Nicken. Unter den Augen hatte er tiefe Ringe. War er schon immer so hager gewesen?
«Ich mache gleich ein Frühstück», sagte sie.
«Das wäre wunderbar; morgens knurrt mir immer schnell der Magen.» Er schob einen Finger unter seinen Zwicker und rieb sich ein Auge. «Wie haben Sie geschlafen?»
«Danke der Nachfrage, sehr gut.»
«Mit anderen Worten, Sie haben kein Auge zugetan.»
«Doch. Gelegentlich.»
Er legte ein Lesezeichen in den Folianten auf seinem Schoß. Im Zuklappen sah sie anatomische Zeichnungen und eine verwirrende Fülle lateinischer Beschriftungen, die auch noch überaus winzig waren. Dass er hier darin las und nicht an seinem Sekretär, verwunderte sie nicht; dort herrschte ein heilloses Durcheinander von Papieren, Pergamenten und Büchern. Tief atmete sie ein. «Ich weiß, dass Sie gut mit Reinmar befreundet sind und meine Anwesenheit eigentlich eine Zumutung ist. Leider weiß ich so schnell nicht, wohin mit mir. Es tut mir leid.»
«Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich gestehe, mir ist bei der Angelegenheit auch nicht wohl. Aber das muss es ja nicht. Sie haben an meine Tür geklopft und um Hilfe gebeten, und ich pflege niemanden abzuweisen. Es ist nicht an mir, die näheren
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