An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
gefertigten Vorhang hob. Vor einem hinteren Riss in der Wand, der als Fenster diente, saß sein Bruder, den Rücken dem Eingang zugekehrt, als wolle er zeigen, dass er nichts fürchtete. Er schlug auf die Kakaofrüchte ein und warf die Hälften neben sich, wo sie sich von Mücken umschwirrt häuften, denn hier war keine helfende Hand, die Bohnen herauszuholen. Wahrscheinlich musste er das selbst tun, sobald er mit dem Zerteilen fertig war.
Sein Rücken, so hell wie der Arturos, war vernarbt.
«Ángel», sagte Arturo. «Bruder.»
Die Hand mit der Machete hielt in der Bewegung inne.
«Ary?»
Ary. So lange hatte er die Kurzform seines alten Namens nicht mehr gehört, dass es ihm schwerfiel, sich angesprochen zu fühlen. «Ja, ich bin es.»
Zu seinem Erstaunen fuhr Ángel mit seiner Arbeit fort. «Hat man dich also auch gefangen genommen und versklavt?»
«Nein. Ich bin einfach hergekommen», antwortete Arturo steif. «Bisher hatte ich Glück und bin niemandem aufgefallen.» Oder Maria Lionza hatte ihm geholfen. Allerdings hatte er nicht den Eindruck, als wolle die göttliche Häuptlingstochter ihm auch jetzt beistehen. Wie seltsam war diese Situation … Sie hatten sich zuletzt vor dreizehn Jahren gesehen. Niemand hatte gewusst, was aus dem andern geworden war – und ob es je ein Wiedersehen geben würde. Arturos tief und lange gehegter Zorn darüber, von Ángel im Stich gelassen worden zu sein, hockte wie ein längst zu Stein erstarrter Klumpen unterhalb seiner Kehle. Schlucken konnte er ihn nicht. Herauswürgen auch nicht. «Warum … bist du …»
Er stockte. Er war schon früher der Schweigsamere gewesen, erinnerte er sich.
«Wie gerät man in die Sklaverei?», schnaubte Ángel. «Ist das wichtig? Hast du überhaupt aufgepasst, dass niemand dich sieht? Oder hat Don Valero Garciá de Villaverde y Saénz dir erlaubt, hier herumzulaufen?»
«Wer ist das?»
«Der Kakao, der da oben in seiner Hazienda sitzt und gelegentlich von der Veranda aus auf Sklaven schießt oder durch die Hütten geht, um sie auszupeitschen.»
«Hat er dich so zugerichtet? Und, verdammt, kehrst du mir den Rücken zu, damit ich deine Narben sehe?»
Ángel legte die Machete beiseite, presste eine Hand auf den vom Fruchtfleisch nassen Boden und schob sich herum. «Wenn ich dich mit meinen Narben beeindrucken wollte, dann mit diesen.»
Im ersten Moment glaubte Arturo, sich geirrt zu haben. Dieser Mann dort war nicht sein Bruder. Denn er besaß nicht Ángels große, dunkle, ständig aufsässig dreinschauenden Augen. Stattdessen waren die Augenhöhlen mit gerötetem, nässendem, narbigem Fleisch gefüllt.
Warum? Arturo brachte das Wort nicht über die Lippen. Der Klumpen war immer noch da und drohte ihn zu ersticken.
Ruckartig drehte sich Ángel wieder um und fuhr fort, nach den Kakaofrüchten zu greifen, sie, soweit Arturo erkennen konnte, in Brusthöhe vor sich zu halten und die obere Hälfte mit der Machete abzuschlagen. «Komm heute Nacht wieder, Bruder», sagte er etwas freundlicher. «Jetzt ist es zu gefährlich für dich.»
Tatsächlich war es in der Nacht, wie es schien, ungefährlich. Denn mit dem Einbruch der Dunkelheit geriet Leben in die tags so stillen Sklaven. Aus den Hütten drangen Gesänge, deren träge Melodien von der Traurigkeit des Daseins und der ständigen Erschöpfung erzählten. Gelegentlich mischten sich Trommeln oder der helle Ton einer Knochenflöte darunter. Ebenso die Geräusche sich paarender Körper. Die Möglichkeiten, sich zu erfreuen, waren gering.
Arturo hatte sich im dichten Gehölz verborgen und dem eintönigen Tack-Tack der Macheten gelauscht. Eine Wache war vorübergeschlendert; eine einzige, die nicht zurückgekehrt war. Jetzt stand er wieder in der Hütte seines Bruders. Der hockte an eine Wand gelehnt und schaufelte mit den Fingern Maisbrei in sich hinein. «Willst du auch?», fragte er, kaum dass sich Arturo auf den nackten Erdboden gesetzt hatte, und beugte sich zu dem kleinen Feuer hinüber, das unter einem Kessel prasselte. Der Qualm störte nicht, denn ein Luftzug kam durch die fensterähnliche Öffnung und trug ihn durch die Maschen des Türvorhangs wieder hinaus. Ángel füllte eine zweite Kokosnussschale und reichte sie ihm.
Der Brei war fast geschmacklos. Nach ein paar Schlucken stellte Arturo die Schale beiseite.
«Was anderes gibt’s hier nicht», sagte Ángel. «Nie. Außer Schiffszwieback an besonderen Tagen. Die sind aber selten. Glaub mir, eintöniges Essen zermürbt
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