An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
abknallen wie den Mulatten. Er würde ihn von seinen Leuten trennen und an einem abgelegenen Ort stellen. Und ihm eine Waffe überlassen. Dieser Mann sollte dem Tod ins Auge blicken. Er sollte wissen, weshalb er um sein Leben kämpfen und verlieren musste.
«Du könntest auch …»
Sein Kopf ruckte hoch. Weshalb schwieg sein Bruder? Er konnte den Eingang nicht überblicken, da er an der gleichen Wand in der Ecke hockte, abseits des schwachen Scheins der heruntergebrannten Glut. Hier an dieser Seite war die Hütte ein einziges Durcheinander: Körbe, Rindenbretter, dreckige Töpfe und Kakaofruchtschalen, Kokosnüsse und dazu die Palmwedel des auf das Dach gekrachten Baums. Wer nicht näher hinsah, würde ihn hinter den Wedeln kaum entdecken. Und falls doch, so hatten sie ausgemacht, würde er durch das Fenster in den Wald hechten. Seine Bedenken, dass Ángel dann schutzlos einer neuerlichen Bestrafung ausgesetzt wäre, hatte dieser mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseitegewischt. Der Bruder war sicher, dass nichts passieren könne. Außerdem redete er öfter mit sich selbst; etwas anderes blieb ihm an den Abenden in seiner Hütte nicht übrig. Also hätte nicht einmal ihre Unterhaltung für Aufmerksamkeit sorgen sollen. Zumal Arturo nicht viel dazu beitrug.
Ángel scherte sich nicht mehr um Gefahren. Mochte er für zwei reden – Arturo würde für zwei aufpassen müssen.
Eine kleine gebeugte Gestalt erschien im Eingang. Arturo beugte sich vor. Sofort wusste er, es war die Mutter. Plötzlich war ihr seit langem vergessener Name wieder da.
Jaiquinché.
Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein mageres Skelett unter einem schlackernden, mottenzerfressenen Kittel. Statt der einstigen blauschwarzen Haare wuchsen auf ihrem Kopf ein paar weiße Strähnen. War sie es wirklich?
Er erhob sich, unsicher, ob sein Anblick ihr nicht den sanften Stoß versetzen würde, der sie endgültig auf die Schwelle des Todes beförderte. Vergebens suchte er nach Worten. Ángel half ihm aus.
«Mutter, Ary ist hier.»
Unsicheren Schrittes ging Arturo auf sie zu. Er wunderte sich, dass sie nicht hereintrat. Dieses Haus schien unter einem Geisterbann zu stehen. Erleichtert erkannte er, dass ihre Augen dieselben waren. Ihr wacher Blick schickte ihn um die fehlenden dreizehn Jahre zurück, und er hatte ihre Stimme im Ohr, noch bevor sie sprach.
«Aryqeatuaro. Du bist es wirklich.»
«Ja.»
Sie stolperte einen Schritt ins Innere und reckte die Arme. Er musste sich bücken, damit sie ihm um den Hals fallen konnte. Was er umfing, war ein dürrer Ast. Als sie ihm über das Gesicht strich, spürte er es kaum. Konnte ein Mensch so schnell altern? Er umfing sie, wagte jedoch nicht, sie an sich zu drücken, da er befürchtete, sie könne unter seinem Griff zerbröseln. Äußerst behutsam küsste er sie auf die Wange.
In seinen Armen begann sie zu zittern und zu weinen. «Du musst wieder gehen», hauchte sie. «Nicht dass auch du versklavt wirst. Er tut das einfach, der Kakao, und niemand fragt, wer du bist. Hier gibt es kein Recht.»
Das hatte er auch nicht erwartet. Wo er herkam, gab es ebenso wenig Gerechtigkeit.
«Ángel. Ist unser Vater etwa auch hier?»
«Nein.»
Über ihren greisenhaften Kopf hinweg hob er den Vorhang an und spähte in die Nacht. Nebenan war die Musik ein wenig leiser geworden und hatte sich mit dem Schnarchen der Erschöpften und den schnarrenden Lauten der Grillen gemischt. Jenseits des schwachen Lichtscheins breitete sich die Lichtung wie ein schwarzer See vor ihm aus. Es war stockdunkel; kein Mond schien, und die Sterne waren hinter Wolken verborgen. Er sah die Palmwipfel in der Ferne sich wiegen und spürte den Luftzug eines aufziehenden Gewitters.
Und aufziehende Gefahr. Flackernde Leuchtpunkte tanzten am Rand der Lichtung.
Er hob die Mutter hoch und zog sie ganz ins Innere. Sie fing an zu zappeln und zu wimmern. «Nicht! Mein Sohn, tu das nicht!»
Was hatte sie nur? Die Lichter – zwei Laternen – kamen schnell näher. Arturo gab die Mutter frei und wich zurück. «Ángel», sagte er. «Es kommt jemand.»
«Ja, ich höre Schritte.»
Arturo hörte sie nicht; für ihn waren die Geräusche aus den anderen Sklavenhütten zu laut. Er konnte sich nicht entschließen, allein in seine geschützte Ecke zurückzukehren, denn hier am Eingang kam ihm seine Mutter allzu verletzlich vor.
«Lauf doch weg», flehte sie, sich umschlingend, als wolle sie seine Umarmung auf ewig bewahren.
«Verschwinde.»
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