An die Empoerten dieser Erde
miteinander umgehen. Ich lade jeden ein, der hier im Saal ist und sich empört über Dinge, die in der
Finanzindustrie abgehen, sich ein Bild von uns zu machen. Vielen Dank, lieber Herr Hessel.
A.M.: Wir versuchen es, wenn möglich, wieder mit ein paar Fragen!
Frage aus dem Publikum: Wir sind derzeit in einer Wirtschaftskrise, die man oft die »große Rezession« nennt. Von ihr sagt man, dass sie vielleicht bald so schlimm sein wird wie die große Depression von 1929. Gleichzeitig haben wir einen Nationalismus, ja Neofaschismus, der bis in die Parlamente hineinreicht. Ich denke dabei an Italien, an die ehemaligen Ostblockstaaten, zum Beispiel an Ungarn, und an Skandinavien, ja auch an die Schweiz. Wen, wenn nicht Sie, soll ich fragen: Wie ernst können Sie solche Vergleiche vor dem Hintergrund Ihrer Biographie nehmen?
S.H.: Wir sind in einer sehr gefährlichen Situation. Im Moment befinden wir uns in einer äußerst gefährlichen Krise der Banken und in einer Krise der Markt- und der Finanzwirtschaft. Die Krise ist noch nicht überwunden. Gleichzeitig aber mit dem Aufstieg von Finanzmächten, die wir bis jetzt nicht demokratisch unter Kontrolle haben, kommen überall wieder nationale Gruppen hervor, Gruppen mit einem faschistischen Hintergrund.
All das zusammen ist sehr gefährlich. Vielleicht aber wird bald eine Zeit sein, in der wir verstehen werden, was wir bis jetzt noch nicht verstanden
haben, nämlich, dass die neoliberale Ökonomie an ihr Ende kommt und dass John Maynard Keynes 21 , ganz im
Gegensatz zu MiltonFriedman 22 , wieder Aufwind bekommt! Das ist eine Möglichkeit, auf die wir uns stützen sollten.
Frankreich wird sehr wahrscheinlich im nächsten Jahr zudem seinen derzeitigen Präsidenten los, und im Sommer wird die neue Weltkonferenz Rio+20 stattfinden. Da werden wir noch einmal genau erfahren, wie weit die Gefahren für unsere Erde gediehen sind, wie schlimm es aussieht!
Im Augenblick lese ich viele Bücher, die genau Auskunft darüber geben, wie gefährlich es sein wird, wenn wir nicht mehr genügend Getreide und Trinkwasser für alle Menschen auf dieser Welt haben, und wie es sein wird, wenn wir immer einschneidendere klimatische Veränderungen haben werden. Wir sollten mehr Bücher lesen, die uns darauf aufmerksam machen, dann werden wir vielleicht aufwachen! Wir müssen endlich unseren Schlaf beenden, damit diese Gefahren nicht unbekämpft bleiben.
Frage aus dem Publikum: Lieber Herr Hessel, ich bewundere Sie! Ich wünsche Ihnen ein langes Leben, eine neue Jugend und alles
Gute, Gesundheit und Zufriedenheit. Sie haben uns allen Hoffnung gegeben. Sie haben uns jung gemacht, wir haben neue Kraft bekommen. Ich möchte an einen
Ausspruch von André Malraux erinnern: »Le XXIème siècle sera religieux ou ne sera pas. – Das 21. Jahrhundertwird eines der Religion oder wird überhaupt nicht sein.« 23 Was denken Sie von diesem Satz?
S.H.: Ich denke, das ist ein ziemlich problematisches Thema, denn Religion kann sehr gefährlich sein. Ich bin kein Anhänger von irgendeiner monotheistischen Religion. Ich denke, die Monotheismen, die wir im Lauf der Geschichte der Menschheit gekannt haben, stellen mehr Gefahren für die Menschheit dar als einen wirklichen Fortschritt. Natürlich trugen auch sie zu großen Fortschritten im Denken des Menschen und in seinem Bild von ihm bei. Aber wenn Religionen proklamieren, dass ihr Gott der einzige sei und andere Religionen nichts gelten, dann stehen wir eben vor der Gefahr, die André Malraux wahrscheinlich vorausgesehen hat. Francis Fukuyama 24 hat wieder auf andere Weise das thematisiert, ihm zufolge wird das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert von Kulturen sein, die im Konflikt stehen.
Eine solche Sichtweise muss überwunden werden, und ich stelle eigentlich genau das Gegenteil fest! Ich glaube, Malraux hat recht, was die Existenz von
Religionen in unserem Jahrhundert betrifft. Aber für mich ist es eine besondere Genugtuung, zu sehen, dass gerade der Arabische Frühling nicht auf einen
Islamismus hinausläuft, sondern versucht wird, die Scharia gleichzeitig mit demokratischen Werten zu verbinden. Man kann also hoffen, dasses im 21. Jahrhundert zwar Religionen geben wird, aber so, dass sie miteinander in »Brüderlichkeit« leben, wie es der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschreibt.
Frage aus dem Publikum: Herr Hessel, Sie haben als junger Mann den Antisemitismus erlebt. Heute sind wir in einer Zeit, in der man immer
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