An die Empoerten dieser Erde
Büchleins«, wie es Herr Hessel sinnigerweise nennt, Ihnen mit auf den Heimweg zu geben. Möchten Sie selber vorlesen, Herr Hessel?
S.H.: Ja, gerne! »Widerstehen heißt Schaffen, Schaffen heißt Widerstehen!« Das ist natürlich ein Satz, der ohne Kontext völlig abstrakt ist. Was bedeutet er aber? Wenn man bedenkt, dass das Schaffen immer gegen Widerstände stößt und dass das Widerstehen immer nur dann wirklich wird, wenn es auch etwas schafft, dann kann ich mich heute Abend von Ihnen, wertes Publikum, mit der Botschaft verabschieden: Bitte steht wieder auf, widersteht und schafft!
Habt Mitgefühl!
Auf der Schwelle zur Weltgesellschaft Stéphane Hessel im Gespräch mit Roland Merk
Stéphane Hessels vorbereitende Gedankenskizze für das Gespräch mit dem Herausgeber Roland Merk © Stéphane
Hessel
Roland Merk: Herr Hessel, in Ihrer Rede in Zürich betonten Sie: »Kein Land kann mehr hoffen, allein weiterzukommen, ohne mit der ganzen Weltgesellschaft verbunden zu sein. Das ist das Neue an unserer Epoche! Das müssen wir alle noch lernen, und dafür müssen wir uns gemeinsam einsetzen.« Gerne möchte ich deshalb mit Ihnen das Neue erkunden und die Forderungen, die sie daraus ableiten, besprechen.
Seit dem Erscheinen Ihrer Bücher Empört Euch! und Engagiert Euch! beschäftigen Sie sich immer mehr mit der Frage, wie die Forderungen gelingenden Lebens in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten, Sie sprechen von einer »interdependenten Welt«, umzusetzen sind. »Wir müssen eine Welt vorbereiten, die auf dem Mitgefühl für alle anderen aufbaut«, sagen Sie in Ihrer Zürcher Rede. Die Betonung, dass wir in einer interdependenten Welt leben, ändert auch entschieden die Stellung des Menschen in der Welt und den Katalog seiner möglichen Forderungen. In dem auf Französisch Ende 2011 erschienenen Buch Tous comptes faits … ou presque 27 schreiben Sie: »Die Empörung war eine erste Etappe, notwendig, aber unvollkommen. Es braucht ein Denken, eine Perspektive, es anders zu machen!« Lassen Sie uns deshalb gemeinsam im Gespräch diese neue Perspektive gewinnen und neue Themen, die Ihnen am Herzen liegen, gemeinsam im Gespräch vertiefen. Jüngst sind Sie, wie ich auch, aus Tunesien 28 zurückgekehrt. Wollen wir mit diesem epochemachenden Arabischen Frühling beginnen, der auch für die Weltgesellschaft von großer Bedeutung ist?
Stéphane Hessel: Ja, gerne!
R.M.: Herr Hessel, vom Tahrir-Platz über die Wall Street, von Griechenland über Spanien zu Deutschland empört man sich. Ihr Buch Empört Euch! ist im Herbst 2010 in Frankreich erschienen. Konnten Sie die Welle der Empörung in den arabischen und westlichen Ländern für das Jahr 2011 voraussehen, oder sind Sie überrascht?
S.H.: Ich bin völlig überrascht, aber seit ein paar Monaten suche ich nach einer Erklärung, warum denn dieses Büchlein von
dreißig Seiten eine solche Wirkung gehabt hat – und zwar nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Womit hängt die
unglaubliche Wirkung zusammen? Ich würde sagen, wir leben in diesem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in einer unsicheren Welt. Wir wissen alle, dass
wir uns in einer großen wirtschaftlichen Krise befinden. Wir wissen noch nicht, ob sie sich bereits stabilisiert hat oder ob wir noch mittendrin sind,
aber wenigstens zeigt die Situation,dass viele Leute sich unsicher fühlen. Wenn man ihnen dann sagt, ihr sollt euch empören, ihr sollt euch indignieren, weil eure Würde, eure Dignität als Menschen verletzt wurde, dann horchen die Leute auf. Natürlich genügt es nicht, die Menschen aufzufordern, sich zu empören. Man muss ihnen auch sagen, welche großen Gefahren vor ihnen liegen, die es rechtfertigen, dass sie sich empören sollen. Schließlich kam ein paar Monate nach der Veröffentlichung meines Büchleins der Arabische Frühling, zunächst die Aufstände in Tunesien und Ägypten, dann in Libyen und schließlich sogar in Syrien. Es gibt in einigen Ländern an der Mittelmeerküste ein großes Bedürfnis, anders regiert zu werden, als es bisher der Fall gewesen ist. Das hat merkwürdigerweise auch dazu geführt, das zum Beispiel mein Buch in Spanien nicht nur ins Katalanische, sondern auch in andere Sprachen des Landes übersetzt wurde.
R.M.: In Tunis und Kairo lautete die Devise »Dégage!« (Hau ab!), »Kifaya!« (Genug!) oder »Game over!«. In Spanien bezog man sich auf Ihr Büchlein Empört Euch! und gab der Bewegung den Namen Los
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