An die Empoerten dieser Erde
Indignados. Befinden wir uns angesichts der Zustände in der Welt am Vorabend einer globalisierten Empörung?
S.H.: Ja, die Zustände in dieser Welt leiten sich von etwas Gemeinsamem ab. Sie rühren von der Übermacht der Finanzmächte her, die weder transparent noch politisch kontrolliert sind. Viele Leute sagen sich, dass sie nicht mehr auf ihre Regierung zählen können, weil sie sich gegen den Einfluss der Finanzmächte nicht verteidigen könnenund es nicht schaffen, selber aus der Krise zu kommen. Dieser Umstand verweist auf etwas Globales. Daher ist diese Empörung nicht nur in Diktaturen wie Tunesien und Ägypten vorzufinden, sondern auch in demokratischen Ländern wie Griechenland, Irland, Spanien und Frankreich.
R.M.: In einem »Solidarity Letter from Cairo« schreiben Aktivisten vom Tahrir-Platz an die Occupy-Wall-Street-Bewegung: »Eine ganze Generation über den Globus verstreut ist im Gefühl aufgewachsen, emotional wie rational keine Zukunft zu haben angesichts der aktuellen Ordnung der Dinge.« Die ägyptischen Aktivisten verweisen auf die Strukturanpassungsmaßnahmen in der Ära Mubarak, die dem Land durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds auferlegt wurden und zum Ausverkauf der öffentlichen Dienste in Ägypten geführt haben – eine Realität, die angesichts der Schulden und der angeordneten Sparpolitik nun auch im Westen ankomme. Wie denken Sie darüber?
S.H.: Ja, ich denke, das ist das Wesentliche. Unsere Probleme sind nicht mehr national zu lösen, weder in Tunesien und Ägypten noch in Europa. Selbst die Hoffnung, dass die Europäische Union so stark sein würde, dass sie die Probleme der europäischen Staaten lösen könnte, wird fraglich. Was in Griechenland, in Spanien oder in Italien geschieht und was sich in anderen Ländern noch ereignen kann, hängt von einer bestimmten Weltordnung ab. Die beiden großen Gefahren, die diese Weltordnung charakterisieren, sind der zu große Reichtum einerseitsund die unerhört große Armut andererseits. Der Slogan »We are the 99 percent« der Demonstranten vor der Wall Street spielt darauf an. Diese große Kluft zwischen Reichen und Armen ist eine Gefahr, die wir überwinden müssen.
R.M.: Ist es nicht sehr erstaunlich, dass nun die Leute vom Tahrir-Platz mit denen von der Wall Street kommunizieren? Noch vor kurzem sprach man nur vom »Clash of Civilizations« 29 !
S.H.: Ja, aber das verändert sich jetzt. Das Interessante ist, dass die Rede vom »Clash of Civilizations«, diese Idee Samuel Huntingtons, wonach Kulturen aufeinanderprallen, nicht mehr aktuell ist. Es ist zum Beispiel von höchster Bedeutung, dass gerade die Partei der Ennahda in Tunesien sofort betont hat, dass sie keinen Islamismus, sondern eine islamische Demokratie wolle. Das bedeutet auch, dass das Bedürfnis des Einzelnen, des Bürgers, ja sagen wir mal, des Weltbürgers, überall das gleiche ist. Seine Botschaft ist: Es sollen die Grundprobleme des Menschen jetzt gelöst werden, also die Probleme im Zusammenhang mit der Produktion und Verteilung der Nahrung, die Probleme der Wirtschaft und der Gesundheit und der Erziehung! Und sollten die Regierenden – ob sie nun Tyrannen oder Demokraten sind – das nicht beherzigen wollen, dann werden sie mit Empörung rechnen müssen, und zwar mit einer ziemlich generalisierten Empörung aller Bürger!
Natürlich ist die Situation in allen Ländern sehr unterschiedlich. Man kann gar nicht alle Länder miteinander vergleichen. Aber immerhin: Der Gedanke, dass man Widerstand leisten muss, weil es so nicht weitergehen kann, der ist ziemlich allgemein in den Köpfen verbreitet!
Ich habe bereits in meiner Rede in Zürich von den Gefahren gesprochen, die die Welt aktuell bestimmen. Ich sprach von der Kluft zwischen Armen und Reichen, die immer größer und größer wird, aber was vielleicht noch gefährlicher ist, ist die Art und Weise, wie wir mit unserem Planeten Erde umgehen. Wir wissen, dass das Trinkwasser immer rarer wird, und die Energieversorgung beziehungsweise die Kernenergie stellt ein enormes Problem dar. Unsere Probleme sind globale Probleme, aber die Empörung ist lokal. Die Summe aller Empörungen verweist jedoch auf etwas Globales, auf globale Probleme und Gefahren!
R.M.: Das Jahr 2011 brachte zwei Widerlegungen. Zunächst widerlegten die tunesische und die ägyptische Revolution die Vorurteile des Westens gegenüber dem Islam und den Arabern, die seit 9/11 kursierten. Die friedlichen Revolutionen in Tunesien
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