An die Empoerten dieser Erde
sich nun umschaut, so sieht man, dass das afrikanische und das asiatische Denken viel reicher an Mitgefühl und Dialog sind als unser westliches Denken, das auf das Subjekt fixiert ist. Wir sollten die Weisheit dieser Kulturen und ihre seelischen Erfahrungen berücksichtigen, sie werden für die entstehende Weltgesellschaft von Nutzen sein.
R.M.: Kant hatte in seiner Ethik immer die »Menschheit« zum Richtmaß genommen, so in der Formulierung des kategorischen
Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Aber mit der realen Menschheit
hatte das noch nichts zu tun. Nun leben wir in deren realer Konkretisierung, und da haben wir es mit verschiedenen Kulturen zu tun. Auch da geben sie
lieber dem Mitgefühl den Vorzug. Wieso?
S.H.: Weil wir uns in die verschiedenen Kulturen einfühlen müssen, um die anderen zu verstehen, und weil wir es im Gegensatz zur Zeit Kants mit einer konkreten Weltgesellschaft zu tun haben. Nur Mitgefühl, ich wiederhole es, fördert die Solidarität unter den Völkern.
R.M.: Im Mitgefühl, im Mitleiden kann ich eine Anweisung für mein Handeln finden, denn was nicht sein soll, bringt sich als Schmerz oder Leid zur Sprache. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty 33 sucht deshalb im Mitleid eine »schwache Form« des Universalismus zu retten, denn wäre das Leid nicht universell, dann müsste man annehmen, dass die Menschen »kulturbedingt« verschieden leiden – und das ist ja nicht der Fall. Als die Menschenrechte 1948 verfasst wurden, war da dieselbe Idee am Werk, einen schwachen Universalismus zu retten, der verbindliche Handlungsanweisungen für die so verschiedenen Kulturen angeben könnte?
S.H.: Das war in der Tat im Laufe der Arbeit das Wichtigste, das uns geschah. Wir hätten uns an verschiedene Religionen oder an bestimmte geläufige Ideologien oder Ethiken halten können, aber am Ende unserer langen Suche stand das Wort »Würde«, das im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingeführt wird: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Das Wort »Würde« verstehen alle Kulturen. Der Arabische Frühling stand und steht im Zeichen der »Karama«, arabisch für Würde. Daher ist auch der französische Titel meines Büchleins Indignez-vous! sehr wichtig. Die Übersetzung Empört Euch! meldet das nicht an. Man kann sich empören, ohne Würde zu haben, aber man kann sich nur dann indignieren, wenn man die Würde als verletzt erachtet! Das ist der ganze Unterschied, auf den ich immer wieder aufmerksam mache.
R.M.: Aber Würde meint nicht nur moralische, sondern auch körperliche Integrität.
S.H.: Ganz recht. Der Stein ist einfach da, aber das Dasein des Tieres meldet Würde an, die im Menschen zu einer bewussten Würde wird. Das ist für mich das Ausschlaggebende. Wir besitzen etwas, das uns von den anderen Elementen der Natur unterscheidet und das gleichzeitig Hoffnung und Gefahr bedeutet – Hoffnung, wenn es sich als etwas begreift, das sich mit der Natur entfalten will, Gefahr, wenn es sich hingegen verschließt und behauptet, es sei etwas ganz anderes als Natur und habe auch mehr Kraft als sie. Dann fällt man in die Richtung, die wir eben angesprochen haben – eine Menschheit, die zwar enorm entwickelt ist, die aber gegen die Wand fährt!
Interessant ist, sich in diesem Zusammenhang zu fragen, wann wir Menschen denn zum ersten Mal unsere Würde empfunden haben. Wahrscheinlich kam sie erst mit der Epoche der griechischen Philosophie zu Bewusstsein. Zum ersten Mal hat der Mensch sich als ein Wesen empfunden, das darüber nachdenken kann, was aus ihm – nicht weiter einer Natur anheimgegeben – werden kann, und dabei ist er selber sozusagen ein Stück Gottheitgeworden. Die Menschen haben sich vom bloß »Gegebenen« befreit, von daher haben wir die Möglichkeit, am Werk der Menschheit weiterzubauen!
R.M.: Sie betonen, dass alles in einem Dialog steht. Was ist für Sie eine »interdependente Welt«?
S.H.: Wir wissen, dass das, was wir tun, mit dem, was andere tun, eng verbunden ist. Von dieser wechselseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit erfahren wir ganz natürlich in der Kindheit, in Mutter- und Vaterschaft, in der Familie und in der Gesellschaft. Wir sind nicht die Einzigen auf dieser Erde, aber die Gefahr ist heute, dass wir uns zu stark individualisieren. Dann ist es egal, was der Vater, der Sohn oder die Mutter über uns denken.
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