An diesem einen Punkt der Welt - Roman
für alles Zeit gehabt, sagte Dominik.
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Im Dorf war ein kleiner Buchladen an den Rand des Konkurses gekommen.
Man suchte einen neuen Betreiber. Tom bewarb sich, die Gespräche waren weit gediehen, der Besitzer sagte jedoch schließlich ab mit der Begründung „unzuverlässig“. Dieses Muster kannte Tom. Hat einer ein Schandmal, bleibt es ihm. Nach jeder Enttäuschung wurde er müder.
Der Buchladen war verloren, aber der Literaturverein gelang. Er war seit Jahren eines von Toms Lieblingsprojekten, das die Freundesrunde vehement unterstützte. Nach aufreibenden Verhandlungen sagte die Gemeinde eine kleine Subvention zu, alle Verantwortlichen arbeiteten ohne Honorar. In Zeiten des Greißlersterbens wurde der Verein Literaturladen benannt – Nahversorgung mit den Worten der Dichter.
Das wird nix, sagten die Zweifler.
Der Laden wird kein Jahr überleben.
Wen soll denn das interessieren, wenn man abends müde heimkommt?
Hier lebten vor allem Bauern, Geschäftsleute, Stifts-, Molkerei- und Zementfabriks-Arbeiter und Pendler mit ihren Familien. Ein paar Gastwirte noch, mit Personal. Ein arbeitsames Dorf, ein bestelltes Land. „Provinz“ eben, würden manche sagen, Schimpfwort oder Ort vermeintlicher Idylle.
Aber das Experiment gelang. Tausende freiwillige Arbeitsstunden waren die Basis. Nach wenigen Jahren mussten die Lesungen in größere Räume verlegt werden. Eine Literaturzeitschrift begleitete viermal im Jahr das Programm. Die Zweifler hatten das Interesse der Menschen, vor allem der jungen, unterschätzt, ihren Hunger nach Geschichten, die ihnen von sich selbst erzählen, von Liebe und Hass, von Hoffnung und Enttäuschung, von der Monade des Einzelnen und dem Gefüge einer Gesellschaft. Von Krieg und Gewalt, von Versöhnung und Neubeginn, von der Fremde, nach der sie sich sehnen, die sie fürchten und die sie selbst in sich tragen. Die Zweifler hatten nicht gewusst, dass Literatur davon erzählt, dass das Leben herrlich, brutal und komisch sein kann und es unser aller Leben ist.
Hier, so träumte Tom, hier im 2763-Seelen-Dorf, entsteht Metropolis.
15
Es war ein Durcheinander, ein Rufen, Fragen, Lachen, eine Aufregung und Bewegung auf dem Grillparz, an die hundert Menschen saßen im Gras, gingen und liefen über die Wiesen, hielten Fernstecher vor die Augen und kleine, geschwärzte Glasscheiben, dunkle Brillen gingen von Hand zu Hand. Kinder suchten ihre Eltern, Jausenbrote wurden ausgepackt und mit Fingern in diese und jene Richtung gedeutet.
Mittags, am 11. August 1999, sollte eine totale Sonnenfinsternis über Mitteleuropa zu sehen sein. „Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhalts …“, schrieb Adalbert Stifter zur Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842.
Elisa, Tom, Oliver und Reinhold hatten den Massenandrang auf dem Grillparz vorausgesehen. Sie suchten einen weniger bevölkerten Ort und waren unterwegs vom Sternsee auf die 800 Meter hohe Teufelsmauer, um das Ereignis von hier aus zu beobachten. Der Weg war beschwerlich, da er über einen Vorgipfel führte, wieder viele Höhenmeter in eine Scharte bergab ging und dann noch einmal steil zum Gipfel anstieg.
Oliver und Reinhold waren die beiden neuen Untermieter im Erdgeschoß des Lamanderhauses. Elisa und Tom bewohnten den ersten Stock mit der angebauten Holzveranda an der Südseite. Alte Bauernhäuser, die über einen gewissen Reichtum verfügt hatten, boten genügend Platz, sie hatten Stuben, Schlafräume und Kammern. Die Zimmer im Erdgeschoß standen nach der Auflösung der ursprünglichen Wohngemeinschaft leer und Tom konnte ein Zusatzeinkommen gut gebrauchen.
Oliver kam aus München, war Marktforscher und sollte in der Region für eine internationale Handelskette den Bedarf für Sportartikel und das Kaufpotential von Einheimischen und Gästen untersuchen und herausfinden, ob neue Filialen gute Gewinne brächten. In den nahen Gebirgstälern gab es florierenden Tourismus, vor allem im Winter. Oliver war ein smarter Typ, elegant, schaute fesch aus mit Pilotenbrille und schwarzem T-Shirt in seinem 6er BMW und war auf eine angenehme Art unterhaltsam. Tom hatte ihn beim Billard im Café Schorner in Kolness kennengelernt, sie verstanden sich. Oliver suchte eine Bleibe, die persönlicher war als ein Hotelzimmer. Das Lamanderhaus kam ihm so seltsam aus der Zeit gefallen vor, dass er als Großstädter sich diesen etwas primitiven Romantizismus „genehmigen“
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