An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Tor?
Nach dem Spiel, den Interviews und den Kommentaren saßen Parmenides und Tom noch lange in der Nische des hölzernen Umgangs beisammen. Es war die erste laue Frühlingsnacht. Tom rauchte. Nicht mehr so viel wie früher, aber genug. Roberta war schon schlafen gegangen. Vom Wald her hörte man von Zeit zu Zeit den Ruf eines Kauzes.
Tom rief Elisa an und sagte, dass er heute nicht mehr kommen und bei Parmenides übernachten werde.
In eine Stille hinein sagte Tom: Ich steh an mit dem Stauffenberg.
So?
Ich kann doch nicht beschreiben, was wirklich in ihm vorgegangen ist?
Warum nicht?
Ich hab ihn nicht gekannt und selbst wenn ich noch zwei Jahre in Bibliotheken und Archiven Material sammle, wüsste ich nicht, warum er diese Verantwortung übernommen hat, Hitler zu töten. Sich das zuzutrauen: mit einer einzigen Hand, der linken noch dazu, an der nur mehr drei Finger waren, zwei Bomben installieren zu müssen! Und dann reichte die Zeit nicht einmal richtig für eine! Das zu tun in einem Hochsicherheitsbunker, in dem niemand nur eine Minute unbeaufsichtigt war! Dieser Mut, diese Belastung, diese Verzweiflung und diese Hoffnung! Was ist da in ihm vorgegangen?
Du sollst ja kein psychologisches Gutachten schreiben, sondern historisch recherchieren, aus den Fakten deine Schlüsse und die Gedankenlinie ziehen zu Marianas Theorie vom Tyrannenmord.
Ich möchte ihn aber verstehen . Beide verstehen.
Verstehen ist nicht deine Aufgabe: Darstellen sollst du, so objektiv wie möglich. Allerdings erinnerst du dich sicher, was der Original-Parmenides sagt: … der Sterblichen Wahngedanken, denen verlässliche Wahrheit nicht innewohnt …
Dann wenigstens ein Wahrheiterl.
Damit hättest du erstens wieder nichts erreicht, denn es würde dich nicht zufrieden stellen, und zweitens kommst du auf diese Weise nie an ein Ende.
Da hast du recht.
Du sollst aber ein Ende finden, Tom, endlich!
Will ich ja auch.
Was sagt denn dein Professor dazu?
Ungefähr das Gleiche wie du.
Nach einer langen Pause sagte Tom: Es geht nicht nur um diesen Carl Schenk Graf von Stauffenberg. Und nicht um einen Jesuitenpater –
Worum dann?
Ja, natürlich, schon um die zwei, und vor allem um die Rechtfertigung, einen Tyrannen umzubringen. Hitler ist ja nicht tot, immer neue Hitler-Klone entstehen irgendwo und –
Du verzettelst dich wieder einmal.
Red nicht wie mein Vater früher. Und Elisa in letzter Zeit.
Muss ich aber, ist ja wahr.
Eine neue Zigarette. Ein neues Glas Obstler vom Nachbarbauern. Das wievielte?
Du sollst etwas dazu essen.
Hab keinen Hunger.
Du musst besser auf dich schauen.
Nach einer langen Pause sagte Tom zögernd: Es geht im Grunde um –
Dich –, sagte Parmenides.
Ja.
Das weiß ich doch.
Ein Nachtfalter schwirrte um die Öllampe, die sie aus Ano Riglia mitgebracht hatten, ein Erinnerungsstück vom Studium der dorischen Tempel auf dem Peloponnes.
Weißt du, fing Tom wieder an, ich wüsste nicht, was ich schreiben sollte, wenn ich eine Biografie über mich schreiben müsste. Frag unsere Freunde, jeder würde etwas anderes sagen. Weiß ich, wie du mich siehst? Wie Roberta? Wenn ich über mich schreiben müsste, wäre es eine Durchschnitts- und Allerweltsgeschichte, keine Dramatik drin, nur eine kleine Provinzgeschichte, die ein leises Echo der großen Geschichte ist und vielleicht nicht einmal das. Wenn ich über mich schreiben wollte, müsste ich mich erfinden …
Ein guter Fluchtweg, sagte Parmenides.
Wir machen uns ein Bild von uns selbst, fuhr Tom fort, und malen es zum Bildnis und stellen es auf die Kommode, schmücken es mit einem schönen Rahmen und glauben, es sind wir. Ist dieses Bildnis nun wahrer als jenes, das sich andere von uns machen, und wer entscheidet, welches das richtige ist? Wir haben unsere Lebensdaten, den Werdegang, die Vita . Allein das Wort ist kalt und kurz. Leben ist lebendiger. Wir sind lebendiger. Wir haben unsere Erinnerungen, die wir drechseln wie ein Stück Holz, sie bearbeiten nach Lust und Laune, nach Jahreszeit oder Lebenszeit, wir polieren und bemalen sie und bestimmen, wann wir sie ans Tageslicht holen. Und wenn sie ungefragt kommen, sind wir überrascht, und wenn sie schön sind, tätscheln wir sie und ergeben uns weich in ihren Lichthof, und wenn sie grausam sind und uns quälen, heulen wir auf oder gehen zum Psychiater oder schicken sie zum Teufel.
Parmenides schwieg.
Wir haben, versuchte es Tom neuerlich, unsere Sprache, die –
Da bist du bei Dionysos, der das Fest der
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