An diesem einen Punkt der Welt - Roman
poetischen Rhetorik feiert, des dynamischen Zusammenhangs, das liegt alles nicht so weit zurück und nicht so fern, wie du glaubst, denn –
Ich meine nicht Rhetorik, ich meine Poesie. Wir haben die Phantasie der Worte und der Gedanken, wir können uns entwerfen, erträumen –
Wer sind wir ?, fragte Parmenides, du redest viel von wir . Aber du wolltest doch nie Masse sein?
Aber ich bin eben nicht nur ich , sondern auch wir – wir, eingebunden in den Kanon der Zeit und der Gesellschaft, aber als Ich kann ich wiederum, das hoffe ich zumindest, eben auch jenseits von Wir sein. Beyond. Am anderen Ufer.
Und schaust zu?
Und schaue zu.
Du doch nicht.
Dann bau ich drüben ein neues Schiff.
Und fährst wohin?
Sie lachten. Tom schenkte sich nach, entzündete eine neue Zigarette, der Nachtfalter war tot, die Öllampe fast zu Ende gebrannt. Parmenides war müde.
Ein Letztes noch, Parmenides. Wir sind doch viel geschwommen im Meer. Es geht aber auch im Lamanderbach, wenn du willst, im Sommer: Schau in die Sonne, solange du kannst, schließ die Augen und tauch dann deinen Kopf unter Wasser. Da erscheinen Sonnenpunkte in deinen Augen – sie können Kreise bilden, die stillstehen, Kreise, die sich bewegen, sie können Schlangenlinien, schöne Figuren oder freche Nasen sein, es können Keulen, Zitterringe oder Samen sein, die sich bewegen, Sonnenfinsternisse können es werden, verglühende Raumkapseln, Girlanden mit Blüten, wie Kinder sie zeichnen, Punkte und Striche, die die Struktur eines Atoms haben. Und alles sind unsere Augen und es ist die eine Sonne, die wir sehen, und trotzdem entstehen tausend Welten daraus. Und das – –
Tom zögerte und sagte dann langsam, wie in einem kurzen Abschiedsmonolog:
Das ist Biografie: die tausend tanzenden Sonnenpunkte in uns – denn, ja, weißt du, wie ich mich gerne beschrieben sähe? Als Erzählung – als Roman –, als Text, der mit mir macht, was er will, denn – ja, Parmenides, ich möchte leben wie ein ausufernder Text, möchte Literatur werden –
Und Parmenides darauf, im Aufstehen:
Morgen früh erfinde ich dich als einen, der all das zu Ende bringt, was er zu Ende bringen sollte.
24
Im Sinne seines Vorsatzes erfand Parmenides am nächsten Morgen einige Details zu einer Vita des Thomas N.:
Als Tom nach der langen Fußballnacht und der Diskussion um das Schreiben einer Biografie in seine Dachkammer ging,
fasste er mehrere Entschlüsse, die binnen Jahresfrist sein Leben verändern sollten:
Im Mai 2006 heirateten Elisa und Tom in der Stiftskirche des Dorfes. Roberta und ich waren Trauzeugen.
Tom beendete sein Studium.
Im Juni 2007 fand in der großen Aula der Universität Wien Toms Sponsionsfeier statt. Der Vater saß steif in der 2. Reihe. (Von den 100 000 Schilling, die er vor Jahren Tom für einen Studienabschluss versprochen hatte, wurde nicht mehr gesprochen. Tom hatte es schon damals abgelehnt.) Die Mutter hielt drei Pakete auf ihrem Schoß, Karin weinte. Professor Emanuel Karlinger spielte Klarinette im Ensemble, das die Musik zur Feier ausrichtete. Ohne ihn, bekräftigte Tom, würde er heute nicht hier sein, ohne die extensiven Fachgespräche, die Ermunterung und das Vertrauen, das Karlinger in ihn, den Inkonsequenten und Zweifelnden, gesetzt habe.
Beim anschließenden Festessen saß Elisa neben Tom, strahlend. Tom sehr aufmerksam. Sie erwarten ein Kind.
Zum Abschluss spielte und sang Tom einen verhalten optimistischen Song von Bob Dylan …
… My road might be rocky
The stones might cut my face
But as some folks ain’t got no road at all
They gotta stand in the same old place
Hey, hey, so I guess I’m doin’ fine
Die Arbeit über Juan de Mariana, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und den Tyrannenmord erregte das Interesse der Fachwelt über die Grenzen hinaus. Die Universität Göttingen und die Akademie der Wissenschaften in Wien wurden auf die aufsehenerregende Arbeit aufmerksam, verfolgen den weiteren Ausbau der Thematik und stellen eine gemeinsame Publikation in Aussicht.
Zu Schulbeginn trat Tom sein Probejahr für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie am Gymnasium von Kolness an.
Toms Mutter, Sieglinde N., stimmte dem Verkauf von 2 000 m 2 Grund zu.
Das Haus am Lamanderbach soll mit dem Erlös saniert werden.
So erfand Parmenides Toms Vita.
So hätte er sie sich gewünscht.
25
Das Leben ist ein Spieler.
Es lässt sich nichts vor-schreiben.
Es schreibt seine eigenen Geschichten.
*
Als Tom nach der langen
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